Die Geliebte des gelben Mondes (German Edition)
die Ehrwürdige Frau kamen nahe an
uns vorbei und ich betrachtete sie so gut es ging. Ich hatte sie mir ganz
anders vorgestellt. Suan-Jen wirkte auf mich wie eine verbitterte Ziege, die
sich mit verkniffenem Mund dem Thron näherte, die Hände in ihrem Gewand versteckt.
Selbst die dicke Schminke konnte die Falten, die sich durch das Gesicht der
Frau zogen, nicht überdecken. Suan-Jen wirkte – anders als die perfekt
geschminkte Su-Ling – eher wie eine misslungene Porzellanvase.
Wie alt sie wohl war?, fragte ich mich im Stillen.
Sie wirkte auf mich um vieles älter als der Kaiser selbst. Kein Wunder, dass
ich sie für Shenzongs Mutter gehalten hatte.
Das Kaiserpaar hatte nun endlich Platz genommen
und die Vorführung konnte beginnen. Auf einen Gongschlag hin öffneten sich die
Fronttüren zum Thronsaal und herein kamen, angeführt von einem Mann in schwarzem
Gewand, fünfundzwanzig weißgekleidete Soldaten. Sie betraten den Saal in einer
Reihe, formierten sich schließlich zügig zu einem Quadrat und verharrten alle
gleichzeitig in einer einheitlichen Grundhaltung: aufrecht stehend, die Arme
vor dem Körper schräg nach unten und leicht angewinkelt gehalten, die Beine
etwa schulterbreit. Den Blick richteten alle starr nach vorne, als würde jeder
von ihnen einen fiktiven Punkt am Horizont fixieren. Das alles geschah in einer
beeindruckenden Geschwindigkeit und gleichzeitig fast geräuschlos.
Die Zuschauer starrten wie gebannt auf die
formierten Männer und warteten neugierig, was noch kommen würde.
Der Anführer im schwarzen Gewand stand von seinen
Männern etwa fünf Schritte entfernt und hatte dem Kaiser den Rücken zugewandt.
Auch er verharrte in der gleichen Grundhaltung.
In Shenzong Gesicht war bereits während des
Einzugs der Männer eine tiefe Faszination zu lesen. Offenbar war er äußerst
überrascht.
Wie der Kaiser und alle anderen Zuschauer beobachtete
auch ich gespannt das Geschehen. Das Gesicht des Mannes, der allen voranstand,
konnte ich nicht sehen. Doch ich konnte erkennen, dass zwischen ihm und seinen
Männern eine spezielle Art der Kommunikation stattfand. Die Soldaten waren hoch
konzentriert und es herrschte im ganzen Saal noch immer eine angespannte
Stille. Niemand regte auch nur einen Finger – nicht die Soldaten und auch nicht
die Zuschauer. Es war schon fast unheimlich.
Dann auf einmal drehte sich der Anführer zum
Kaiser um und verneigte sich dreimal tief vor ihm. Jetzt konnten die Zuschauer
sein Gesicht sehen. Ich bemerkte den konzentrierten und dabei so kraftvollen
Blick des Mannes, der viel jünger zu sein schien, als die drei ehemaligen Marschälle
des Kaisers.
Nach der dritten und längsten Verbeugung – und
einer kurzen Wartepause zu Ehren des Kaisers – drehte er sich wieder zu seinen
Soldaten um und nahm erneut seine Grundstellung ein. Schließlich, als die
Spannung unter uns Zuschauern beinahe unerträglich geworden war, hob er in
einer sehr langsamen, aber fließenden Bewegung den rechten Arm und zeigte mit
leicht angewinkeltem Ellenbogen bis über seine Stirn einen Block, als wollte er
einen unsichtbaren Schlag von oben auf seinen Kopf abwehren. Anschließend
führte er in umgekehrter Bewegung den Arm wieder genauso langsam zurück und
befand sich wieder in der Ausgangsposition.
Er wiederholte die Bewegung in der verlangsamten Geschwindigkeit,
doch diesmal behielt er den Arm oben. Wie zur Erklärung klopfte er sich mit der
linken Hand erst kraftvoll auf die rechte Schulter und dann auf den rechten
Unterarm um zu verdeutlichen, dass mit diesem Block ein Angriff von oben rechts
abgewehrt werden könne. Schließlich gab er ein kurzes Kommando und sofort führten
die Soldaten die vorgegebene Bewegung in gleicher langsamer Präzision aus, die
man zuvor bei ihm hatte bestaunen können. Danach erfolgte die gleiche Übung mit
dem anderen Arm. Der Block nach links wurde in gleicher, langsamer Genauigkeit
durchgeführt und die Zuschauer starrten wie gebannt auf die Darbietung.
Als der Anführer die beiden Übungen kombinierte
und in einer sehr schnellen Bewegung ausführte, war ich überrascht – und ich
war nicht die einzige, dass vielen von uns der Atem stockte. Als er schließlich
seine Männer aufforderte, es ihm gleichzutun, und das fünfmal hintereinander,
zogen einige der Gäste hörbar die Luft ein vor Staunen. Die Soldaten bewegten
sich so synchron, dass es eine Freude für das Auge war, die Darbietung zu
betrachten.
Die Männer hatten wieder ihre
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