Die Geliebte des Normannen
langer, behutsamer Blicke. Mary wusste, dass Stephen ebenso wie sie an die bevorstehende Nacht dachte.
Das reichhaltige Hochzeitsmahl hatte sich über Stunden hingezogen, doch den Brautleuten war es sehr kurzweilig vorgekommen, nicht zuletzt, weil es eine Menge Unterhaltung gegeben hatte. Tänzerinnen, Hofnarren, Jongleure, dressierte Hunde, Spielleute und ein Affenmann waren aufgetreten. Nun vergnügte sich die Menge mit Zuckerwerk, Konfekt, Met und Wein und Tänzen. Stephen warf Mary einen so offenkundig lüsternen Blick zu, dass sie zu beben begann. Sicher würden sie gleich gehen können ...
»Dürfte ich mit meiner Tochter sprechen und ihr alles Gute wünschen?«
Mary blickte auf und sah Malcolm, der ihr und Stephen zulächelte.
Stephen erhob sich, gelassen schmunzelnd.
»Selbstverständlich.«
Sein Blick streichelte Mary.
»Ich bin im einigen Minuten zurück, Madame.«
Marys Brust schnürte sich zusammen, ihr Herz pochte. Er küsste zärtlich ihre Hand.
Sobald Stephen das Podium verlassen hatte und im Saal von Gratulanten umlagert wurde, nahm Malcolm seinen Platz ein und legte einen Arm um Mary. Sie schob ihre wenig vornehmen Gedanken entschlossen beiseite. Es begeisterte sie, dass ihr Vater sich zu ihr setzte und ihr alles Gute wünschte.
»Du scheinst dich über diese Verbindung sehr zu freuen, meine Tochter.«
»0 ja, Vater. Obwohl ich zuerst dagegen angekämpft habe und enttäuscht war, habe ich Stephen inzwischen mit ganzem Herzen akzeptiert.«
»Es ist gut, dass du akzeptierst, was du akzeptieren musst, Mary«, fuhr er nunmehr ernst fort und musterte sie genau.
Mary wurde nervös, sie hatte eine böse Vorahnung. Der Blick ihres Vaters gefiel ihr nicht.
»Vater? Ist es möglich, dass es jetzt, da Stephen und ich verheiratet sind, zu einem echten Frieden an der Grenze kommt?«
Seine Miene wurde steinhart.
»Wie rasch du vergisst!«
»Was vergisst?«, fragte sie. »Tod und Blutvergießen?« »Wie rasch du vergisst, wer du bist, Mary.«
»Bin ich denn nicht Stephen Gemahlin?«
»Du bist meine Tochter. Und du wirst immer meine Tochter bleiben, das kann sich nie ändern.«
Hätte er genau diese Worte in einem anderen Zusammenhang und auf andere Art und Weise gesprochen, dann hätte Mary sich gefreut. Nun aber fühlte sie sich zum Zerreißen angespannt.
»Natürlich, Vater. Das kann sich nie ändern.«
»Du bist Schottlands Tochter.«
Mary hielt sich am Tisch fest; das Atmen fiel ihr schwer. »Ja, auch das bin ich.«
Malcolm lächelte, doch sein Blick blieb ernst.
»Ich bin auf dich angewiesen, Mary.«
»Auf mich angewiesen?«, wiederholte sie. Ein hohles Gefühl entstand in ihrem Herzen, in ihrem Innersten. »Ich bin auf deine Loyalität angewiesen.«
»Was sagst du da?«, rief sie und sprang entsetzt auf.
Auch Malcolm erhob sich. »Was ich sage, ist, dass du Schottland gehörst, bevor du den de Warennes gehörst.«
Marys Fingernägel krallten sich in die Tischplatte. Das konnte nicht wahr sein, es konnte einfach nicht sein! So etwas konnte ihr Vater nicht sagen – und bestimmt würde er nicht auf diese Weise fortfahren!
»Natürlich musst du eine gute, pflichtgetreue Gemahlin sein. Aber du darfst mich nicht im Stich lassen, du darfst Schottland nicht im Stich lassen.«
Tränen nahmen ihr die Sicht. Sie konnte nicht mehr sprechen, nicht einmal widersprechen, so sehr war sie von Entsetzen und Verzweiflung erfüllt. »Du musst für mich spionieren, Mary«, fuhr Malcolm in eindringlichem Ton fort. Seine Augen funkelten.
Mary fühlte sich einer Ohnmacht nahe. »Du verlangst von mir, meinen Gemahl und die seinen zu bespitzeln?«
»Du musst! Denn es hat sich nichts geändert. Die Normannen hassen mich, und ich hasse sie. Northumberland bedrängt mich noch immer, Rufus will nach wie vor schottischen Boden. Du darfst nicht vergessen, wer du bist. Du bist zu allererst eine schottische Prinzessin und erst an zweiter Stelle de Warennes Gemahlin. Eine bessere Gelegenheit wird sich niemals bieten. Was glaubst du, weshalb ich dir erlaubt habe, ihn zu heiraten?«
Mary konnte ihren Vater nicht einen Moment länger ansehen, und das nicht wegen der Tränen, die ihre Augen füllten.
»Das ist meine Hochzeit!«, flüsterte sie.
»Und du bist eine wunderschöne Braut«, sagte Malcolm und klopfte ihr anerkennend auf die Schulter. »Trockne deine Tränen, dein Bräutigam kommt zu dir. Aber vergiss nicht, wer du bist, Mary, und was deine Pflicht ist.«
TEIL 3
18
Drei Tage später kehrten sie
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