Die Geliebte des Normannen
Erschöpfung überwältigten sie, lähmten sie.
Es erforderte große Überwindung, doch Mary ging zu ihrer Mutter und bedeckte sie mit einem Tuch. Edgar kam zurück, warf ihr einen langen Blick zu, und dann trat er neben ihre tote Mutter und hob sie ohne große Mühe auf die Arme.
Mary bemühte sich, mit ihm Schritt zu halten.
»Wie konnte Edmund uns im Stich lassen?«
»Er gehört nicht mehr zu unserer Familie!«, stieß Edgar hervor, während sie die Treppe hinunter und in den Burghof hasteten, wo das Sonnenlicht so grell war, dass sie wie geblendet waren. Ihre Brüder waren bereits alle aufgesessen, bis auf Edmund natürlich, den Verräter. Der zweitjüngste, Alexander, versuchte, den weinenden kleinen Davie zu trösten. Edgar legte Margaret in den von Pferden gezogenen Wagen.
In diesem Augenblick bemerkte Mary, dass über dem Burghof eine unheimliche Ruhe lag. Alles Klagegeschrei hatte aufgehört, und alle anderen Laute waren ebenfalls erstorben. Es herrschte eine unnatürliche, beängstigende Stille.
Mary wusste, dass sie auf etwas lauschte, doch sie wusste nicht, worauf. Dann bemerkte sie es plötzlich – das ominöse Donnern der sich nähernden Armee hatte aufgehört.
Mary schrie auf, als Edgar sie auf ein Pferd hob und dann selbst aufsaß. Die Armee hatte angehalten, um sich für den Angriff zu positionieren.
»Es ist Donald Bane, nicht wahr?«
Edgar trieb sein Pferd neben ihres. »Nein.«
Mary erstarrte. »Wer dann?«
Er warf einen langen, düsteren Blick auf sie, und sie wusste es. In diesem Augenblick fühlte sie alles: Liebe, Hass, Furcht, Entsetzen.
»Es ist der Bastard von Northumberland!«, fauchte Edgar. »Der Bastard hat seine Armee bis nach Edinburgh geführt. Fordert er den Thron für sich selbst?«
Mary war einer Ohnmacht nahe.
»Nein«, flüsterte sie. »Er fordert mich.«
TEIL 4
24
Die Abtei Dunfermline lag nicht weit von Edinburgh auf einem Hügel jenseits des Firth of Forth. Sie war von dicken Steinmauern mittlerer Höhe umgeben, die hauptsächlich als Einfriedung dienten, und wiewohl sie durchaus ein Hindernis für Vagabunden und Gesetzlose darstellten, konnten sie keinen Schutz gegen eine herannahende Armee bieten. Doch genau das war es, was in diesem Augenblick auf das Kloster zukam, dachte der Abt bedrückt.
Hundert bewaffnete Ritter, von denen die meisten über der Rüstung einen schweren Umhang trugen, um die Kälte abzuwehren, säumten den schneebedeckten Hügel. Die Sonne schimmerte auf hundert Schilden und hundert Helmen, und hundert riesige Streitrösser scharrten auf dem verschneiten Boden und warfen dunklen Schmutz auf. Ein schwarz-weiß-goldenes Banner wehte in der vorderen Reihe, in seiner Mitte prangte eine kurzstielige, blutrote Rose, die rote Rose von Northumberland. Als wäre das nicht genug, um die Knie des Abts butterweich werden zu lassen, blickte der Anführer dieser Normannen von seinem großen Pferd herab dem Abt nun auch noch direkt ins Gesicht. Und sogar dieser Ritter selbst war ein Riese, der sicher schon einen imposanten Eindruck machte, wenn er nur vor einem stand. Er hatte den Helm abgenommen, und so konnte der Abt seine Gesichtszüge gut erkennen. Sie wirkten fast noch erschreckender als die große Machtdemonstration angesichts der fehlenden Befestigungen der Abtei. Sie waren starr und furchterregend kalt.
Der Abt von Dunfermline hatte beschlossen, seinen Besucher möglichst tapfer zu begrüßen; er hatte die schmale Seitentür in der Klostermauer geöffnet und war hinausgetreten.
Dieser Durchgang bot genug Platz für einen Mann zu Fuß, ohne Rüstung und schwere Waffen, aber nicht für Ritter auf ihren Pferden. Für einen Reitertrupp würde er die beiden vorderen Tore entriegeln müssen. Er schlang den Umhang fester um seinen dünnen Körper, obwohl er die Kälte kaum spürte. Denn er hatte die vorderen Tore in voller Absicht geschlossen gelassen. Allerdings war er sich sehr wohl dessen bewusst, dass er keine Mittel hatte, diesen Mann davon abzuhalten das Kloster gegen seinen Willen zu betreten.
»Was ist Euer Wunsch, Mylord?«
»Ihr beherbergt Prinzessin Mary. Ihr werdet sie sofort freigeben.«
Der Abt hatte Angst. Nicht um sich selbst oder das Kloster, nicht um seine Mönche und Nonnen, sondern um die junge Frau, die mitten in der Nacht und bei schneidender Kälte gekommen war, um für sich und ihre Brüder Schutz zu suchen. Er konnte sich nur zu gut vorstellen, was der Ritter mit der sehr schönen und sehr gequälten Prinzessin
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