Die Geliebte des Normannen
verblüfft.
»Aber wie ist das möglich? Alle Mädchen, die ich kenne, sind verrückt danach, dass er sie in sein Bett mitnimmt. Und danach sind sie immer sehr vergnügt – sie bitten sogar darum, dass er wieder einmal ein Auge auf sie wirft.«
Mary verschränkte die Arme vor der Brust.
»Ich nehme an, er – Stephen – nimmt oft Mädchen mit in sein Bett.«
»Sehr oft«, sagte Isobel mit der Andeutung eines Lächelns. »Aber keine Ladys, nur Küchenmägde und Dirnen. Ihr seht ganz anders aus.«
Mary erwiderte nichts. Sie trat vor den Fensterschlitz, blickte hinaus und beschloss, auf der Stelle zu fliehen.
»Findet Ihr nicht, dass Stephen ein schöner Mann ist?«
Mary wollte nicht antworten. Sie musste gegen eine sehr unliebsame Vorstellung ankämpfen: Stephen in glühender Leidenschaft mit einem Flittchen. Sie hielt sich an dem steinernen Fenstersims fest, Isobel den Rücken zugewandt.
»Isobel, da wir gleich groß sind, wäre es möglich, dass du etwas zum Anziehen für mich hast, das etwas angenehmer ist als diese scheußliche Kluft, die ich anhabe?«
Isobel blinzelte. Marys Herz pochte heftig. Sie war nicht gerade raffiniert vorgegangen. Doch sie konnte dem Drang zu fliehen nun nicht mehr widerstehen.
Und auf einmal strahlte Isobel.
»Natürlich; warum habe ich daran bloß nicht selbst gedacht? Ihr seid eine Lady, und keine Lady könnte solch schäbige Kleider lange ertragen. Ich gebe Euch sehr gern etwas von mir zum Anziehen.«
Gekleidet in eine eisblaue Tunika mit silbernem Gürtel, eine silberne Kniehose, dunkelblaue Schuhe und einen purpurroten, mit Eichhörnchenfell gefütterten Umhang, kam Mary langsam mit Isobel die Treppe herunter. Sie waren im Laufe des Morgens gute Freundinnen geworden, und Mary bedauerte, sie solchermaßen benutzen zu müssen.
Isobel war klug, geistreich und eigenwillig, und so fühlte sich Mary an sich selbst erinnert. Und es gab noch mehr Ähnlichkeiten – wie sie war auch Isobel mit mehreren Brüdern aufgewachsen, und ihre Eltern waren mächtige, aber zugleich liebevolle Persönlichkeiten. Mary dachte, unter anderen Umständen könnte ihre Freundschaft sich durchaus vertiefen, sobald das Kind zur Erwachsenen heranreifte.
Doch das würde natürlich nicht geschehen.
Marys Anspannung wuchs. Der Normanne befand sich unten im Saal; sie konnte ihn deutlich hören. Zusammen mit seinen beiden Brüdern, dem Haushofmeister und dem Burgverwalter besprach er geschäftliche Dinge. Mary lauschte seiner energischen, etwas belegten Stimme. Offenbar war auch ein Lehnsmann bei ihm, der um eine kleine Gunst bat.
Würde sie die Erlaubnis bekommen, mit Isobel den Wohnturm zu verlassen?
Sie hatte Isobel ermuntert, ihr ihr Pony zu zeigen, das zufällig von den Hebriden stammte, einer zu Schottland gehörenden Inselgruppe, auf der Marys Onkel Donald Bane im Exil lebte. Ohne Zweifel würde dies die einzige Gelegenheit sein, vor Einbruch der Nacht fliehen zu können. Weiter wollte sie gar nicht denken; etwa daran, was sie erwartete, wenn ihre Flucht nicht gelingen sollte. Ein dicker Kloß in ihrer Brust schien das zu verhindern.
Isobel ergriff fest ihre Hand.
»Hab keine Angst vor ihm. Er ist nicht so schlimm, wie du denkst.«
Mary befeuchtete sich die trockenen Lippen.
»Ich habe keine Angst vor deinem Bruder, Isobel.«
Isobel schien skeptisch zu sein.
»Ich bin allerdings ziemlich sicher, dass dein Bruder mir nicht erlauben wird, das Haus mit dir zu verlassen.«
Isobel prustete.
»Wenn ich ihn bitte, dann macht er es!«
Entschlossen, Ruhe zu bewahren und ihr Vorhaben nicht zu gefährden, folgte Mary dem Kind in den Saal. Isobel lief fröhlich auf ihre Brüder zu. Während Geoffrey sie mit einem Scherz begrüßte, der sie zum Lachen brachte, stellte Stephen die Arbeit ein und musterte Mary interessiert und abwägend. Sie bemerkte die Bewunderung in seinem Blick, als er sie in den feinen Kleidern seiner Schwester sah.
»Eine immense Verbesserung, Mademoiselle«, murmelte er.
Mary wandte den Blick von ihm ab. Ihr Herz schlug so heftig, dass sie fürchtete, er könne es hören und die Täuschung erahnen.
Isobel unterbrach das Zwischenspiel.
»Ich möchte Mairi König Rufus zeigen, Steph. Dürfen wir? Bitte?«
Mary dachte an Flucht und erwartete seine Antwort. Ihr wurde heiß.
Stephen würdigte seine Schwester kaum eines Blickes. »An Ponys interessiert?«
»Ich liebe Pferde über alles«, brachte Mary heraus. Stephen betrachtete sie noch einen Moment, dann tätschelte er
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