Die Geliebte des Normannen
das Ganze zu seinem Vorteil zu wenden.
»Was sie wohl zu gewinnen hoffte?«, fragte Brand verwirrt. »Hat sie wirklich geglaubt, sie könne dir über einen längeren Zeitraum hinweg etwas vormachen? Wenn sie dir die Wahrheit gesagt hätte, hättest du nicht mit ihr geschlafen, sondern sie gegen ein fettes Lösegeld an Malcolm zurückgegeben.«
Stephen wusste, dass Brand glaubte, die Wahrheit zu sagen, doch er selbst war sich dessen nicht so sicher. Hätte er sein Wort gehalten, wenn ihm ihre Identität bekannt gewesen wäre, und sie unberührt freigelassen? Er war kein Mann, der sein Wort leichthin gab. Vielleicht wäre die Versuchung durch die Prinzessin so übermäßig stark gewesen, dass er nicht hätte wiederstehen können – in mehr als nur einer Hinsicht.
Stephen wandte seine Gedanken der unmittelbaren Zukunft zu.
»Malcolm wird sich rächen.«
»Er wird deinen Kopf verlangen«, erklärte Geoffrey rundheraus. »Und das zu Recht. Offenbar bist du es, der einen neuerlichen Krieg heraufbeschwört, nicht Malcolm oder König Rufus.«
»Nicht unbedingt«, erwiderte Stephen.
Ein seltsames, hartes und entschlossenes Lächeln veränderte seine Gesichtszüge. Seine Augen verengten sich; sie waren nicht auf seine Umgebung gerichtet, sondern auf eine ferne Zukunft. Der Frieden war so kostbar. Er musste nicht zerstört werden. Wenn er Malcolm zum Umdenken bewegen und ihn überzeugen konnte, einzuwilligen, und, natürlich, wenn er Rufus überzeugen konnte ...
Stephen drehte sich auf dem Absatz um und schritt auf die Treppe zu. In der nächsten Sekunde fiel ihm ein, dass Mairi – nein, Prinzessin Mary – mit seiner Schwester den Turm verlassen hatte. Die Vorahnung einer Katastrophe erfüllte ihn. Nun, da er von ihrem königlichen Blut wusste, hatte er keinen Zweifel mehr, dass sie auf Flucht sann. Die Lage hatte sich verändert; sie war plötzlich weitaus brisanter, als er es sich hätte träumen lassen. Mary war nun die entscheidende Figur in einem Krieg, der seit Generationen tobte. Sie zu gewinnen war ein großer Preis – wenn es überhaupt möglich war –, ein Preis, der Hoffnung und Frieden versprach.
Und er würde diesen Preis erringen. Er würde Prinzessin Mary zu seiner Gemahlin machen.
Sie durfte nicht entkommen. Er machte kehrt, rannte zur Tür. Genau in diesem Augenblick kam Isobel hereingeplatzt, tränenüberströmt. Stephen wusste sofort, dass es zu spät war.
Er packte seine Schwester.
»Wo ist sie?« Isobel ließ die Arme sinken und blickte ihn aus großen Augen an.
»Es ist nicht meine Schuld!«, schrie sie verzweifelt. »Sie ist mir gefolgt, und als ich mich umdrehte, war sie plötzlich weg! Ich habe schon überall nach ihr gesucht«, heulte sie und bedeckte weinend und schluchzend das Gesicht.
»Schlagt Alarm!«, befahl Stephen.
Geoffrey rannte bereits die Treppe zur Brustwehr hinauf, um das Horn blasen zu lassen. Stephen eilte durch den Saal, Brand und Will folgten ihm auf den Fersen, Isobel rannte hinter ihnen her.
»Du bleibst hier!«, fuhr er sie an.
»Bekomme ich jetzt Ärger?«
Stephen antwortete nicht; er war bereits zur Tür hinaus.
»Ich glaube, du bekommst ziemlichen Ärger«, sagte Brand schroff. »Geh auf dein Zimmer, Isobel, und warte dort auf Stephen.« Damit folgte er seinem Bruder nach draußen; Isobel eilte die Treppe hinauf.
Seine Männer hatten sich bereits versammelt. Stephen erteilte harsche Befehle, und sie begannen, den Burghof abzusuchen. Alle Arbeiten wurden vorübergehend eingestellt, alle Bewohner des Turms zusammengerufen und befragt. Niemand hatte die Gefangene im Hof gesehen und erst recht nicht ihre Flucht aus der Burg bemerkt. Stephen war inzwischen schon darauf gekommen, warum seine gefangene Prinzessin so »unsichtbar« war. Da sie Isobels Kleider trug, hatte man sie für seine Schwester gehalten und einfach nicht beachtet. Er eilte zum Vorwerk der Burg, mit nur einem Gedanken im Kopf – sie hatte ihn erneut überlistet.
Nach kurzer Zeit hatte er in Erfahrung gebracht, dass ein Karren vor nicht mehr als einer halben Stunde die Burg verlassen hatte und Isobel in der Nähe des Wagens gesehen worden war.
Stephen befahl, ihm sein Pferd zu bringen. Die Suche im Burghof ließ er fortsetzen, obwohl er kaum daran zweifelte, dass die gewitzte Prinzessin diesen längst verlassen hatte. Er galoppierte unter dem Fallgitter durch und setzte über die Zugbrücke, gefolgt von einem Dutzend Reitern für den Fall, dass sie auf Malcolms Männer treffen würden.
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