Die Geliebte des Normannen
Über ihren Köpfen wehte stolz das Banner der Rose.
Sie hatte ihn zum wiederholten Mal überlistet. Widerwillig musste er einräumen, dass er sie bewunderte. Ihr Ehrgefühl entsprach eher dem eines Mannes als dem einer Frau. Aber glaubte sie wirklich, sie könne Alnwick, könne ihm entfliehen? Männer schreckten vor seinem Zorn zurück, sie aber wagte Schlimmeres, sie forderte ihn heraus.
Sie war durch und durch von königlicher Abstammung; nur diese Herkunft konnte einen solch einzigartigen Stolz und ihre grenzenlose Tapferkeit erklären. Doch in seine steigende Bewunderung für sie mischte sich auch eine Befürchtung. Er konnte nicht umhin, sie mit ihrem Vater zu vergleichen. Malcolm war einer der gerissensten und treulosesten Männer, die er kannte. Der Gedanke, dass Prinzessin Mary ihrem Vater so sehr gleichen könnte, behagte Stephen ganz und gar nicht. Eine ungute Vorahnung befiel ihn.
Am besten war es, ein solches Gefühl zu ignorieren. Es passte nicht zu seinem Vorhaben.
Innerhalb von Minuten hatte Stephen den Ochsenkarren eingeholt. Als der Fuhrmann den Reitertrupp sich nähern hörte, hielt er sichtlich verängstigt an.
»Mylord, was habe ich getan?«, fragte er.
Stephen ignorierte ihn und riss ohne ein Wort die Plane von dem Wagen.
Sie lag zusammengekauert darunter und setzte sich sofort auf. Wie zu erwarten, starrte sie ihn mit Trotz und Wut im Blick an. Er bemerkte aber auch die Tränen, die ihre Niederlage signalisierten, und dadurch verlor sein Zorn unwillkürlich an Kraft. Einen Moment lang erschien sie ihm wie ein hilfloses, verängstigtes Kind; er spürte ein seltsam zärtliches Mitgefühl für sie.
Doch im nächsten Augenblick verflüchtigte sich dieser Eindruck. Sie war kein Kind. Er musste sich nur an ihren sinnlichen Körper und an ihr unergründliches Wesen erinnern, um das zu wissen. Diese schöne Fassade war nichts als eben das – sie hatte nichts Unschuldiges oder Hilfloses an sich. Wieder überkam ihn eine quälende Vorahnung. Würde er ab sofort für alle Zeiten vor ihr auf der Hut sein müssen?
»Hofftet Ihr, einen Krieg vom Zaun zu brechen, Demoiselle?«, fragte er sie eisig. Mary erstarrte.
Stephen sprang von seinem Pferd und hob sie von dem Karren. Sie schrie auf und wehrte sich gegen seine kurze Umarmung. Er setzte sie sofort ab und trat zurück. Das Gefühl ihres Körpers blieb. Seine Befriedigung, der errungene Sieg, hatte mannigfaltige Auswirkungen. Es war nicht nur Zorn, was sein Blut in Wallung brachte.
Der Fuhrmann beteuerte lauthals, er habe von nichts gewusst. Stephen beorderte ihn in die Burg zurück, und diesem Befehl kam der Mann bereitwillig nach.
Der Ochsenkarren machte sich auf den Weg. Stephens Reiter hatten sich im Halbkreis hinter ihm formiert; Geoffrey hielt Stephens Streitross.
Alles war still, so still, als wären Stephen und Mary allein. Das Moor erstreckte sich in einer endlosen Fläche aus Grün und Grau vor ihnen, der Himmel darüber verdunkelte sich rasch. Hoch oben kreiste ein Bussard, ein Windhauch bewegte Stephens Umhang und Marys blonde Locken. Schweigen lastete über ihnen.
Stephen blickte auf seine Gefangene hinab. Mit einiger Befriedigung sah er ihre Angst. Aber trotz der Tränen stand sie stolz und aufrecht da; ihr Adel und ihre Würde waren nicht zu verkennen.
»Ihr solltet in der Tat Angst vor mir haben.«
»Es war meine Pflicht, die Flucht zu wagen.«
»Natürlich, Prinzessin.«
Sie zuckte zusammen und wurde kreidebleich.
»Der Fuhrmann wusste nichts von mir«, sagte Mary schließlich heiser, die Augen fest auf Stephen gerichtet.
»Es wäre klüger, Ihr würdet etwas zu Eurer eigenen Verteidigung vorbringen«, riet ihr Stephen mit einem eisigen Lächeln. »Prinzessin?«
Sie atmete tief durch.
»Es war meine Pflicht, zu fliehen, und ebenso, Euch zu täuschen.«
»War es auch Eure Pflicht, mir Eure Jungfräulichkeit zu opfern?« Es kümmerte Stephen nicht, dass seine Männer zuhörten; vielmehr lag es in seiner Absicht, das ganze Reich wissen zu lassen, dass Mary sein Bett geteilt hatte.
Ihre Brüste hoben und senkten sich, ihr Gesicht war gerötet.
»Es erschien mir die bessere Wahl, meine Unschuld zu verlieren als Eure Geisel zu sein.«
Er zog erstaunt eine Braue hoch.
»Ihr opfert Eure Tugendhaftigkeit, um Eurem Vater das Lösegeld zu ersparen?« Er konnte es nicht glauben.
»Ich kenne Euch!«, schrie Mary ihn an, zitternd, aber mit geballten Fäusten. »Ihr würdet ihn ruinieren, nicht wahr? Ihr würdet weit mehr
Weitere Kostenlose Bücher