Die Geliebte des Normannen
Moment erschrak sie allerdings über sich selbst.
Mary wusste nicht, wie lange sie an dem Fenster gestanden hatte, von Entsetzen, Furcht und Zorn verzehrt. Es war alles seine Schuld. Wie sie ihn hasste!
Plötzlich hörte sie Schritte und erstarrte. Sie erkannte diese täuschend leisen Tritte sofort. Ihr Atem stockte. Langsam wandte sie sich von dem schmalen Fenster ab und starrte in Richtung auf die im Dunkel nicht auszumachende Tür.
Nur zu gut erinnerte sie sich an das unglaubliche Verzücken, das sie in seinen Armen verspürt hatte. Nur zu gut erinnerte sie sich an die Zärtlichkeit seiner Hände, an seine köstlichen Berührungen. Nur zu gut erinnerte sie sich an das Gefühl, ihn in sich zu spüren ...
Ihre Knie wurden weich.
Aber er kam nicht.
Viele lange, unendliche Minuten verstrichen. Er kam nicht.
Mary redete sich ein, nicht enttäuscht zu sein. Sie regte sich nicht, konnte es nicht, bis sie die Kontrolle über ihre Sinne und ihre Gliedmaßen wiedergewonnen hatte. Schließlich stolperte sie ausgelaugt durch den Raum auf das Bett zu, das sie mit Isobel teilen sollte. Von der Ausweglosigkeit ihrer Situation überwältigt, legte sie sich an den Rand.
Dämonen tauchten aus der Nacht auf, Dämonen der Einsamkeit, der Hoffnungslosigkeit, der Furcht. Dämonen des Begehrens. Sie rollte sich zusammen, presste die Beine aneinander und eine Faust auf den Mund. Wie konnte sie sich nur gleichzeitig fühlen wie ein Kind in Isobels Alter, das verloren und verzweifelt den Weg nach Hause suchte, und wie eine erwachsene Frau, die vor Verlangen nach einem Mann fast zu sterben meinte?
Nun endlich weinte sie leise.
Irgendwann schlief sie vor Erschöpfung ein. Ihre letzten Gedanken kreisten um eine schäbige kleine Burg voller Schafe und Schweine und um ihren Bewacher Stephen de Warenne, der dort eigentlich nichts zu suchen hatte.
»Du hast offenbar keine gute Nacht verbracht, Bruder«, bemerkte Brand, als er den großen Saal betrat.
Stephen hatte in der Tat keine gute Nacht verbracht; der Schlaf hatte sich nicht einstellen wollen. Er saß nicht an dem langen Tisch, sondern auf einem Stuhl vor dem Feuer.
»Wieso bist du nicht mit den anderen in der Kapelle?«, fragte er unwirsch.
»Ich halte mich an dein Beispiel.« Brand grinste und lehnte sich lässig an die Wand. »Außerdem muss ich heute Morgen nach London zurück, wie du weißt.«
»Sag nichts über die Prinzessin«, befahl Stephen. »Wenn Rufus dich fragt, kannst du sagen, du hättest Alnwick verlassen, bevor wir ihre Identität erfuhren.«
Brand nickte grimmig.
»Es wird das Beste für mich sein, Abstand zu halten. Du schickst also Geoffrey zu Vater mit der Nachricht von der Gefangennahme der Prinzessin?«
»Ja, er wird mit dir reisen.«
Stephen stützte den Kopf in die Hände. Heute war er körperlich müde, ein ganz anderes Gefühl als der Überdruss, den er so oft in seiner Seele spürte.
Doch auch dieser Überdruss schien über Nacht gewachsen zu sein.
Er seufzte.
»Sei vorsichtig«, riet er seinem Bruder.
Da Brand dem Gefolge des Königs angehörte, war es für ihn wichtig, diesem die Treue zu halten, ohne die Interessen Northumberlands zu gefährden.
Das bedeutete für ihn wie für alle loyalen Männer einen gefährlichen Balanceakt.
Deshalb wollte Stephen, dass Brand seine Kenntnis von den Ereignissen der letzten Tage für sich behielt. Geoffrey würde ihren Vater über Marys Gefangennahme informieren, und Rolfe würde dann tun, was er für das Beste hielt.
»Mach dir keine Sorgen«, sagte Brand. Seine Bittermiene war verschwunden. »Vater wird sicher auch denken, dass die Heirat mit der Prinzessin für dich wesentlich besser ist als eine Ehe mit der Erbin von Essex. Und wenn jemand den König überreden kann, dann er.«
»Diesbezüglich mache ich mir keine großen Gedanken, obwohl Rufus äußerst schwierig sein kann«, erwiderte Stephen, dessen Lippen beim Gedanken an den König schmal wurden.
»Was ist los, Stephen?«, fragte Brand leise.
Stephen blickte seinem jüngsten Bruder in die Augen. »Sie treibt mich zum Wahnsinn«, antwortete er ebenso leise.
»Das dachte ich mir.« Brand tätschelte lächelnd seinen Arm. »Hab keine Angst. Du wirst sie in kürzester Zeit in deinem Bett haben – so oft, wie du willst.«
»Das ist lediglich die eine Seite«, murrte Stephen. »Hast du gemerkt, wie sehr sie mich hasst?«
»Im Bett hasst sie dich doch wohl offenbar nicht, wage ich zu behaupten.«
»Aus irgendeinem Grund beruhigt mich dieser
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