Die Gerechten
nach dem andern – und zwar genau in den Tagen der Ehrfurcht, den zehn Tagen der Buße. »Und die«, endete Will, »sind in zwölf Minuten zu Ende.«
»Aber warum das alles?«
»Ich weiß es nicht genau. In diesem Gottesdienst hat der Apostel alles erklärt, aber da bekam ich einen Schlag auf den Kopf. Er und der andere Mann, der jüngere, redeten von Erlösung, vom Gericht und vom Heil, aber das alles ergab keinen rechten Sinn für mich. Es tut mir Leid.« Will sah Beth an und nahm ihre Hand. Sie machte ein ratloses Gesicht.
»Kann mir irgendjemand sagen, was hier los ist?«
Niemand antwortete. Will schüttelte kurz den Kopf. Keine Zeit. Später.
Rabbi Freilich hatte sich auf einen Stuhl gesetzt und strich sich gedankenverloren den Bart. »Sie haben diese Leute mit eigenen Augen gesehen?«
»Vor einer Stunde war ich bei ihnen. Sie sind hier in New York. Ich bin fest davon überzeugt, dass sie es sind. Und ich bin davon überzeugt, dass sie hier sind, um ihr Komplott zu Ende zu bringen. Der Apostel hat gesagt, das ›letzte Wissen‹ fehlt ihnen noch. Ich glaube, sie wissen immer noch nicht, wer der sechsunddreißigste Gerechte ist. Aber sie sind entschlossen, ihn zu finden – und zu töten. Sie müssen ihn beschützen. Wo ist er? Ist er in Sicherheit?«
»Er ist am sichersten Ort der Welt.«
»Sie müssen mir sagen, wo. Sonst ist nicht garantiert, dass sie ihn nicht finden.«
Rabbi Freilich sah auf die Uhr und gestattete sich ein leises Lächeln. »Er ist hier.«
63
MONTAG, 19.28 UHR, CROWN HEIGHTS, BROOKLYN
Die Gesänge des neïlah wehten herein; nicht nur von der Synagoge, sondern aus den Häusern der ganzen Straße erklangen die inbrünstigen Gebete zum Höhepunkt des heiligsten Tages im Jahr.
»Hier?«, wiederholte Will. »Sie meinen …« Er starrte Rabbi Freilich an.
»Nein, Will, nicht ich.«
Will sah sich um. Sonst war niemand da, kein anderer Mann im Haus. Sein Magen krampfte sich zusammen. War es denkbar? »Nein, das kann nicht sein. Sie wollen doch nicht sagen –«
»Nein, Will.« Das Lächeln des Rabbi wurde breiter. »Sie sind es auch nicht.« Und dann deutete er mit einer kaum merklichen Neigung des Kopfes auf Beth.
»Beth? Aber ich dachte, die Sechsunddreißig wären lauter Männer. Sie haben mir gesagt, es sind Männer!«
»Es sind Männer. Und Ihre Frau trägt den sechsunddreißigsten in ihrem Leib. Sie ist schwanger mit einem Jungen, Will.«
»Das muss ein Irrtum sein. Wir versuchen seit –« Will brach ab, als er Beths Gesicht sah. Sie lachte und weinte zugleich.
»Es ist wahr, Will. Ich bin endlich dazu gekommen, den Test zu benutzen, den ich seit Ewigkeiten in der Handtasche mit mir herumtrage. Und es stimmt. Wir bekommen ein Baby, Will.«
»Sehen Sie, Ihre Frau wusste nicht, dass sie schwanger ist«, sagte der Rabbi. »Aber die Thora wusste es. Die Thora hat es uns gesagt. Es war die letzte Botschaft des Rebbe, die er in den Stunden seines Todes an Josef Jitzhok sandte. Zunächst hat es niemand verstanden, aber seine letzten Worte führten uns zum sechsunddreißigsten Vers – aus dem Buch Genesis, dem Buch des Neuen Anfangs. Die Botschaft war nicht wie die anderen – nicht festgehalten in den Aufsätzen und Predigten des Rebbe, nicht in den Computern. Aber wir zählten die Buchstaben in der üblichen Weise und erhielten einen Ort: Ihre Wohnung. Zuerst nahmen wir an, dass Sie der Zaddik sein mussten. Aber dann untersuchte Josef Jitzhok die Worte selbst noch einmal genauer. Dieser Vers – der zehnte des achtzehnten Kapitels – beschreibt den Moment, an dem Gott zu Abraham spricht und ihm sagt, dass Sarah einen Sohn haben wird. Sie war so lange kinderlos geblieben, aber nun sollte sie ein Kind bekommen. Josef Jitzhok verstand, was der Rebbe uns sagen wollte. Wir sollten uns nicht um Sie kümmern, sondern um Ihre Frau. Wir haben den Verborgenen unter den Verborgenen gefunden, Will. Und er ist Ihr Sohn.«
Will zog Beth an sich. Aber als er sie umarmte und küsste, spürte er plötzlich, wie etwas durch seine Verbände in seine Brust drückte. Es überlief ihn plötzlich eisig. Die Worte des Vikars klangen ihm in den Ohren. Wir haben Ihre Wunden verbunden. Ich hoffe, Ihr Leiden lässt nach.
Will riss sich das Hemd auf, zerrte an den Verbänden darunter. Er verfluchte sich. Wie hatte er so dumm sein können? Er war dem Drehbuch gefolgt, das der Vikar für ihn geschrieben hatte! Versuchen Sie, den Weg zu erleuchten – und genau das hatte er getan. Und richtig, da war es,
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