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Die Gerechten

Die Gerechten

Titel: Die Gerechten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Bourne
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Will die Stimme gehört hätte, hätte er sie erkannt.
    Es war die Stimme des Apostels.

62
    MONTAG, 19.12 UHR, CROWN HEIGHTS, BROOKLYN
    Sie war schwarz gewesen; heute Abend war sie weiß. Die Synagoge schien zu leuchten wie Mondlicht auf dem Schnee. Es waren ebenso viele Leute da, wie Will am Freitagabend hier gesehen hatte, aber jetzt waren sie fast vollständig weiß gekleidet. Sie trugen weiße Gewänder, die aussahen wie dünne Bademäntel, über ihren schwarzen Anzügen, und statt der üblichen schwarzen Lederschuhe hatten sie weiße Sportschuhe an den Füßen. Die meisten Gebetsschals waren schneeweiß, auch die Schädelkappen derer, die keinen Hut trugen. Dicht zusammengedrängt standen sie da und beteten, ein wogendes weißes Meer.
    Dies, hatte TC ihm in einem sehr kurzen Anruf aus dem Krankenhaus erklärt, war neïla, der Abschluss eines den ganzen Tag dauernden Marathongottesdienstes. Die Tradition verlangte, dass die Gemeinde – die seit vierundzwanzig Stunden weder Essen noch Wasser zu sich genommen hatte – zum Zeichen der Achtung vor dem Ernst des Augenblicks die ganze Zeit stand. Denn dies war die letzte Stunde des Jom Kippur, des Tags der Buße und des Gerichts. In dieser Stunde schloss sich das Tor des Himmels. Reue war unaufschiebbar dringlich. Bei TCs Beschreibung hatte Will es vor sich gesehen: In letzter Minute schlüpfte der Büßer durch den Türspalt, bevor das große Tor sich donnernd schloss. Und wer nicht bereute oder zu lange gezögert hatte, blieb draußen.
    Den ganzen Tag über hatten die uralten Gesänge vieltausendstimmig durch den riesigen Saal gehallt.
    Berosch Haschama jichatejvum …
    Am ersten Tag des Jahres steht es geschrieben, und am Tag der Sühne wird es besiegelt. Wie viele sterben sollen, und wie viele geboren werden, wer leben und wer sterben soll, wer nach dem Maße eines Menschenlebens und wer davor …
    Will spürte das Gewicht dieser Stunde, als er eintrat. Die Gesichter waren ernst wie bei einem Begräbnis; sie begrüßten einander, aber sie lächelten nicht. Die meisten hatten nur Augen für ihre Gebetbücher, während sie sich vor und zurück wiegten.
    Sha’arej schamayim petach …
    Öffne die Tore des Himmels … Errette uns, o Gott.
    »Entschuldigung«, sagte Will und versuchte, sich durch das Gedränge zu schieben, aber es war zu voll, und er kam zu langsam voran. Er musste so schnell wie möglich zu Rabbi Freilich, wenn er noch einen Handel mit ihm schließen wollte: Er würde ihm sagen, wer es in Wahrheit auf die Gerechten abgesehen hatte, und dafür würden sie Beth freilassen. Er sah auf die Uhr. Sieben Uhr. Er hatte weniger als dreißig Minuten zum Handeln. Will hatte ausgerechnet, dass er es jetzt tun musste, solange die Bedrohung am größten war. Wenn er wartete, bis Jom Kippur zu Ende wäre, und wenn der Sechsunddreißigste unversehrt und unentdeckt bliebe, würden die Chassiden zu dem Schluss kommen, dass die Gefahr vorüber sei. Will hätte dann kein Druckmittel mehr gegen sie.
    Er fragte herum. »Verzeihung, aber wissen Sie, wo Rabbi Freilich ist? Rabbi Freilich?« Die meisten ignorierten ihn. Hin und wieder deutete einer nach rechts oder links – aber seine Augen blieben dabei starr auf das Gebetbuch gerichtet oder fest geschlossen.
    Es war, als wate er durch tiefes Wasser. Lauter unbekannte Gesichter. Wieder schaute er auf die Uhr: noch dreiundzwanzig Minuten.
    Dann legte sich eine Hand auf seine Schulter, und ein stechender Schmerz fuhr durch seinen Rücken. Er fuhr herum und ballte verteidigungsbereit die Faust.
    »Will?«
    »Sandy! Sie haben mich erschreckt.«
    »Was machen Sie hier?«
    »Keine Zeit zum Erklären. Hören Sie, ich muss mit Rabbi Freilich sprechen. Sofort!«
    Sandy antwortete nicht, aber er packte Wills Handgelenk und schleppte ihn nach rechts und dann nach hinten und um die Tische herum, an denen Will drei Tage zuvor die Männer gesehen hatte, die so eifrig studiert hatten. Dort stand, sich vor und zurück wiegend, die Augen geschlossen und das Gesicht zum Himmel gerichtet, Rabbi Freilich.
    »Rabbi? Ich bin’s, Will Monroe.«
    Der Rabbiner senkte den Kopf und öffnete die Augen, als erwache er aus tiefem Schlaf. Er sah sehr müde aus. Als er Wills zerschundenes Gesicht sah, erschrak er.
    »Rabbi, ich weiß, wer die Gerechten umbringt. Und ich weiß, warum sie es tun.«
    Das Rabbi riss die Augen auf, als wolle er sagen: »Reden Sie weiter.«
    »Ich sage es Ihnen, und ich sage es Ihnen sofort, solange Sie noch Zeit haben, sie

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