Die Gerechten
ab. Er wusste, was Beth sich wünschte, aber die Biologie oder sonst irgendetwas stand ihnen im Weg. Die Einstellung der Klinik hatte ihn ermutigt: Lassen Sie sich Zeit. Aber Beth war es nicht gewohnt, als Patientin behandelt zu werden. Sie saß lieber auf dem anderen Stuhl. Und sie brauchte Klarheit: eine Diagnose, ein Behandlungsverfahren.
Außerdem, auch das wusste er, war das Schwangerwerden nur ein Teil der Geschichte. Beth ärgerte sich mehr und mehr über seine berufliche Tunnelsicht, seine Entschlossenheit, Karriere zu machen. Als sie sich kennen lernten, sagte sie immer, wie gut ihr seine Energie gefalle; sie fand sie sogar sexy. Sie bewunderte ihn, weil er sich weigerte, einfach mit dem Strom zu schwimmen und vom Ansehen seines Vaters zu profitieren. Er hatte es sich nicht leicht gemacht – er hätte mit achtzehn nach Amerika gehen und kraft des väterlichen Namens locker einen Studienplatz in Yale bekommen können –, und das bewunderte sie. Aber jetzt wollte sie, dass sein Ehrgeiz sich ein wenig abkühlte. Es gab andere Prioritäten.
Kurz nach vier schlief er ein. Er träumte, er sei auf einem Bootsteich und steuerte ein Stakboot wie ein kitschiger Gondoliere. Ihm gegenüber saß eine Frau und ließ ihren Sonnenschirm kreiseln. Wahrscheinlich war es Beth, aber er konnte sie nicht sehen. Er blinzelte, um das Gesicht zu erkennen. Aber die Sonne blendete ihn.
6
MONTAG, 10.47 UHR, MANHATTAN
Der gute Sünder: Die Geschichte eines New Yorker Lebens – und Todes
Will starrte seinen Artikel an – nicht auf B6 oder B11, nicht mal auf B3, sondern auf A1: auf der Titelseite der New York Times. Er hatte ihn in der U-Bahn auf der Fahrt zur Redaktion angestarrt, dann noch ein wenig auf dem letzten Stück Fußweg, und schließlich hatte er einen großen Teil seiner Zeit am Schreibtisch darauf verwendet, so zu tun, als starre er ihn nicht an.
Bei der Ankunft hatte ihn ein Bombardement von Glückwunsch-Mails empfangen, von Kollegen, die nur einen Schritt weiter saßen, und von alten Freunden auf anderen Kontinenten, die von seinem Erfolg über die Online-Ausgabe der Zeitung erfahren hatten. Gerade nahm er am Telefon weiteren Beifall entgegen, als er eine kleine Welle spürte, die durch sein Schreibtischabteil zog, einen lautlosen Strom von Energie, das Kraftfeld eines Magneten, der sich Eisenspänen nähert. Es war Townsend McDougal, der ausnahmsweise vom Olymp herabgestiegen war und unter dem Fußvolk wandelte. Krumme Rücken richteten sich auf, Gesichter erstarrten lächelnd. Will sah, wie Amy Woodstein reflexhaft an den Hinterkopf griff, um ihr Haar aufzuschütteln. Der altgediente »City Life«-Kolumnist versuchte, seinen Schreibtisch mit einer einzigen Wischbewegung des Unterarms aufzuräumen, und fegte dabei zwei zerknüllte Marlboro-Päckchen in seine Schublade.
Das Oberkommando der New York Times war immer noch dabei, sich an McDougal zu gewöhnen. Er war erst vor ein paar Monaten Chefredakteur geworden – ein ungewöhnlicher Kandidat für diesen Posten. Seine unmittelbaren Vorgänger waren aus dem Teil der New Yorker Gesellschaft gekommen, der viele der bekanntesten Namen der Stadt hervorgebracht und viel zu ihrem Humor und ihrer Sprache beigetragen hatte – aus der Gruppe der jüdischen Liberalen. Frühere Chefredakteure der New York Times sahen aus und redeten wie Woody Allen und Philip Roth.
Townsend McDougal war von einem ganz anderen Schlag. Ein Aristokrat aus New England mit Mayflower- Stammbaum und WASP-Manieren, trug er im Sommer einen Panamahut und im Winter Troddelslipper. Aber nicht das weckte Beklommenheit bei den Veteranen der Times, als bekannt wurde, dass er Chefredakteur werden würde. Nein, was ihn und die New York Times zu einer so ungewöhnlichen Verbindung machte, war die Tatsache, dass Townsend McDougal ein Wiedergeborener Christ war.
Noch hatte er keine obligatorischen Bibelstunden eingeführt, und er verlangte auch nicht, dass die Reporter sich zum abendlichen Redaktionsschluss die Hände zum Gebet reichten. Aber für einen Tempel der Säkularität wie die New York Times war es doch ein Kulturschock. Die Kolumnisten und Kritiker der Zeitung waren in diesem Bereich an einen zwar nicht spöttischen, aber doch sehr distanzierten Tonfall gewöhnt. Evangelikales Christentum war etwas, das dort draußen im Überflugsterritorium existierte, im endlosen Mittelwesten oder im tiefen Süden zwischen den Küsten. Niemand äußerte es explizit – schon gar nicht schriftlich –, aber es
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