Die Gerechten
sagte Harden. »Ich hab ’ne Nachricht von der überregionalen Redaktion bekommen. Go west, young man.«
»Wie bitte?«
»Nach Seattle. Bates’ Frau liegt in den Wehen, und wir müssen einspringen. Anscheinend haben sie keine eigenen Reporter, und deshalb halten sie uns die Bettelschale entgegen.« Harden wurde lauter. »Ich hab alle meine Reserven durchwühlt und ihnen Walton angeboten, aber der hatte irgendeine lahmarschige Ausrede und hat Sie vorgeschlagen.« Walton telefonierte und hörte nicht zu. »Reden Sie mit Jennifer; sie besorgt Ihnen einen Flug.«
»Danke«, stammelte Will, und ein Lächeln breitete sich auf seinem Gesicht aus. Dies war eine große Chance und ein ernsthafter Vertrauensbeweis. Gut, es war nur eine Vertretung, nur auf Zeit. Aber Harden würde die Lokalredaktion bei den New-England-Snobs vom überregionalen Teil nicht blamieren wollen. Er würde seine Redaktion von der besten Seite präsentieren. Will schluckte heftig: Und das war er.
»Ach, und packen Sie Ihre Gummistiefel ein.«
7
DIENSTAG, 10.21 UHR, BUNDESSTAAT WASHINGTON
Und ich habe euch gezeigt: Jesus Christus ist das Licht und der Weg. Wir haben heute ein Wunder gesehen …
Christliche Erbauung und Countrymusic – eine Kombination, auf die immer Verlass war: Selbst im entlegensten Hinterwald, wo keine anderen Stationen mehr beim Sendersuchlauf auftauchten, konnte man jederzeit durch den Äther mit dem Wort des Evangeliums beglückt werden. Auf den Passhöhen im Staat Washington war das nicht anders.
Er näherte sich dem Hochwassergebiet, das sah er. Die Straßen waren zunehmend verstopft, bald blinkten vor ihm die Lichter der Noteinsatzteams, und schließlich sah er beruhigt eine Flotte von gleichförmigen weißen Satelliten-Trucks: das Lokalfernsehen. Er war am Schauplatz seiner Story angekommen.
Er hängte sich an einen Fotografen, der anscheinend wusste, was er tat. Zum einen hatte er die richtige Ausrüstung – nicht bloß die übliche Fotografenweste mit genug Taschen, um den Besitz einer Kleinfamilie unterzubringen, sondern auch schenkelhohe Gummistiefel für Fischereibedarf, eine wasserdichte Hose und Handschuhe, die aussahen, als habe die NASA sie für ihn entworfen.
Will watete hinter ihm her in die Flut. Eiskaltes Wasser kroch an seinen Hosenbeinen herauf. Kurze Zeit später hatten sie einen Platz in einem Polizeiboot gefunden und ließen sich von einem überschwemmten Haus zum andern fahren. Er sah, wie eine Frau mit einer Winde in Sicherheit gebracht wurde; auf dem Arm hielt sie das Einzige, was ihr in ihrem Haus wichtig gewesen war: ihre Katze. Ein Mann stand schluchzend vor seinem Laden und sah zu, wie die Investition seines Lebens wie Laub in der Gosse davonschwamm.
Ein paar Stunden später saß Will wieder in seinem Mietwagen. Nass bis auf die Haut beugte er sich über den Laptop. »Die Menschen im Nordwesten sind an die Launen der Natur gewöhnt – aber deren neuester Stimmungsumschwung hat ihnen den Boden unter den Füßen weggerissen«, fing er an und schilderte dann detailliert die individuellen Leidensgeschichten. Ein, zwei Zitate von den Behörden und ein hübscher Schlusssatz über die Tücken des Klimas – von dem Mann, der seine Schreibwarenhandlung verloren hatte –, und er war fertig.
Im Hotel rief er zuerst Beth an. Sie war schon im Bett, aber sie berichtete ihm von ihrem Tag, und er erzählte von seiner nassen Reise ins Hochwassergebiet. Beide waren zu erschöpft, um das Gespräch wieder aufzunehmen, das sie nie wirklich beendet hatten.
Er schaltete die Lokalnachrichten ein: Bilder vom Snohomish-Hochwasser. Will erkannte die Gesichter wieder, die er gesehen hatte. Sein Mitgefühl galt dem Reporter, der die Liveszenen aufnahm: Der Mann war immer noch dort.
»Nach einer kurzen Pause weitere Neuigkeiten zum Mordfall Pat Baxter. Bleiben Sie dran.« Will kehrte zu seinem Computer zurück und hörte nur mit halbem Ohr, was aus dem Fernseher kam.
… das fünfundfünfzigjährige Opfer tot in seiner Hütte aufgefunden … Polizei nimmt an, dass es sich um einen fehlgeschlagenen Einbruchsversuch handelt … umfangreiche Beschädigungen, aber gestohlen wurde nichts … Baxter stand seit Jahren unter polizeilicher Beobachtung … kurze Zeit lang Hauptverdächtiger bei der Suche nach dem Unabomber … keine Verwandten.
Will fuhr herum. Ein Wort hatte seine Aufmerksamkeit geweckt. Er gab »Unabomber« bei Google ein und absolvierte einen kurzen Auffrischungskurs über einen bizarren Fall, der
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