Die Gerechten
das FBI zwei Jahrzehnte lang in Atem gehalten hatte. Jemand schickte Paketbomben an Unternehmen an der Ostküste und hinterließ eine Spur von obskuren Hinweisen. Irgendwann veröffentlichte der Täter ein »Manifest«, ein quasiakademisches Traktat, das sich las wie das Werk eines Eigenbrötlers mit einem tiefen Misstrauen gegen jede Technologie. Außerdem schien er von einem tiefen Groll gegen die Regierung besessen zu sein.
Will fand einen neuen Artikel auf der Website der Seattle Post.
Mit dieser Auffassung stand der Unabomber im Einklang mit einer Bewegung der neunziger Jahre, die auch den ermordeten Pat Baxter zu ihren zuverlässigen Anhängern gezählt hatte. Denn das war die Zeit der bewaffneten Milizen – amerikanische Staatsbürger, die sich gegen einen vermuteten Angriff der US-Regierung rüsteten. Am Ende verbreiteten sie sich über das ganze Land, aber ihren Ursprung hatten sie im pazifischen Nordwesten, und nirgends waren sie stärker.
Will rief das Archiv der New York Times auf und arbeitete sich hindurch. Die ersten Artikel, die erschienen, waren auffallend wohlwollend; sie beschrieben die Milizen als »Wochenendsoldaten« – übergewichtige, zu große Schuljungen, die sich ächzend und keuchend mit Kriegsspielen unterhielten. Aber bald änderte sich der Tonfall.
Die Schießerei bei Ruby Ridge 1992 zwischen einem weißen Rassisten und dem FBI, bei der Ersterer Frau und Kind verlor, und die ein Jahr später stattfindende Belagerung in Waco, Texas, ließen eine Welt zum Vorschein kommen, von der die meisten Amerikaner – zumal die in den Medienredaktionen in New York – nie gehört hatten. In dieser Welt war Washington das Zentrum einer schemenhaften »Neuen Weltordnung«, verkörpert durch die verhassten Vereinten Nationen, die entschlossen waren, freie Menschen auf der ganzen Welt zu versklaven. Wie sonst konnte man die mysteriösen schwarzen Hubschrauber erklären, die über dem ländlichen Amerika gesichtet wurden? Welche Bedeutung konnten die Zahlen auf der Rückseite der Straßenschilder sonst haben? Das waren doch sicher verschlüsselte Koordinaten, die der US-Army eines Tages helfen sollten, ihre Mitbürger in Konzentrationslager zu treiben.
Je mehr Will las, desto mehr wurde er gefesselt. Diese zivilen Kämpfer glaubten an die irrwitzigsten Theorien – über Freimaurer, die Bundesbank, geheime Botschaften auf Dollarscheinen, geheimnisvolle Verbindungen zu europäischen Banken. Manche waren so sicher, dass die Schaftstiefel-Bürokraten der Bundesregierung es auf sie abgesehen hatten, dass sie sich in die Berge zurückgezogen hatten – sie hielten sich in Berghütten im hintersten Idaho und im Bergland von Montana versteckt, und sie hatten ihre Verbindung zu den Behörden in jeglicher Form abgebrochen: Sie trugen keinen Führerschein bei sich, und sie weigerten sich, irgendwelche amtlichen Papiere zu unterschreiben. Manche hatten sich buchstäblich aus allen staatlichen Netzen gelöst; sie produzierten sogar ihren eigenen Strom, statt sich durch nationale Elektrizitätswerke versorgen zu lassen.
Und das alles waren keine Spielchen. Am zweiten Jahrestag der Feuersbrunst von Waco wurde das Alfred P. Murrah Building, ein Bürogebäude der Behörden in Oklahoma, durch eine gewaltige Autobombe zum Einsturz gebracht; dabei kamen 169 Menschen zu Tode. Die Täter waren keine islamistischen Extremisten, sondern amerikanische Jungs, deren Köpfe von einem ebenso großen Hass auf die amerikanische Regierung erfüllt waren.
Die Seattle Times brachte ein Foto von Baxter bei einer Kundgebung in Montana im Jahr 1994, die allerdings eher wie eine Messe aussah, mit Ständen, an denen Aussteller ihre Produkte vorstellten. Baxter bot Fertiggerichte an – mit der militärischen Bezeichnung »MRE« – »Meals Ready to Eat«. Anscheinend trieb er einen regen Handel mit Trockennahrung, kleinen Zelten und ähnlichen Sachen: Survival-Ausrüstungen, die den freiheitsliebenden Amerikaner in der kommenden Apokalypse mit Essen und Unterkunft versorgen würde. In der abgehobenen Welt der regierungsfeindlichen Bewegung war Baxter vielleicht keine Berühmtheit, aber er gehörte doch wenigstens zum Inventar.
»Er war ein großer Patriot, und sein Tod ist ein schwerer Schlag für alle Freiheitsliebetiden«, erklärte Bob Hill, ein selbst ernannter Kommandant der Milizen von Montana.
MITTWOCH, 9 UHR, SEATTLE
Zu seiner Beunruhigung hatte das Telefon nicht geklingelt. Als er um neun schließlich aufwachte – in
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