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Die Gerechten

Die Gerechten

Titel: Die Gerechten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Bourne
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elektrozaungesicherten, von hohen Mauern umgebenen Villen zerbrach sich niemand den Kopf über die ethisch einwandfreie Herkunft ihres Reichtums. Es genügte, wenn man einen Mercedes fuhr und seine Frau nach Paris fliegen ließ, wo sie ihre Garderobe einkaufte und sich die Highlights im Haar nachtönen ließ. Als die Amerikaner 1994 hier einmarschierten, bezeichneten sie die Villenbewohner von Petionville als MAE – Moralisch Abstoßende Elite –, und Jean-Claude gehörte dazu.
    Vielleicht hatte sein Verstand sich deshalb die Geheime Kammer ausgedacht: als eine Art Wiedergutmachung. Er wusste nicht, woher die Idee sonst hätte kommen sollen: Sie war einfach fix und fertig in seinem Kopf erschienen, als habe sie nichts mit ihm selbst zu tun.
    Die Kammer war nichts weiter als ein einstöckiges weißes Gebäude, eine bessere Hütte und kaum auffälliger als der Unterstand an einer Bushaltestelle. Das Entscheidende waren die Türen an allen vier Seiten, die immer unverschlossen waren.
    Das System war einfach. Zu jeder Zeit konnte ein Reicher herkommen und Geld in der Kammer deponieren. Und zu jeder Zeit konnte ein Armer kommen und sich nehmen, was er brauchte.
    Das Schöne daran war die Anonymität. Die Türen waren mit einer automatischen Schließanlage ausgerüstet, die dafür sorgte, dass sich immer nur eine Person in der Kammer aufhalten konnte. So war sichergestellt, dass Gebende und Nehmende einander nie begegneten. Die Reichen wussten nicht, wer von ihrer Freigebigkeit profitierte, und die Bedürftigen wussten nicht, wer ihnen geholfen hatte. Die Wohlhabenden von Port-au-Prince hatten keine Gelegenheit, sich vor den Beschenkten aufzuspielen oder ihre Bedürftigkeit für unzureichend zu befinden. Und den Armen blieb das Gefühl der Dankespflicht erspart, das Mildtätigkeit zur Demütigung machen kann.
    Die vier Türen gaben der Sache den letzten Schliff. So konnte es keinen Geber- und Nehmereingang geben, und wenn man jemanden ein- oder ausgehen sah, wusste man nicht, auf welche Seite er gehörte.
    Jean-Claude hatte nur noch eines tun müssen, damit es wirklich funktionierte. Er musste sich eine haitianische Nationaleigenschaft zunutze machen, die unter den Reichen von Petionville mit ihren Four-Wheel-Drives und den Bitterarmen aus der Cité Soleil gleichermaßen verbreitet war: den Aberglauben.
    Er sprach mit den Heilern und Voodoopriestern, die bei der MAE hohes Ansehen genossen, und schob denen, die sich besonders gut darauf verstanden, Gerüchte zu verbreiten, ein paar Dollar zu. Nicht lange, und die Reichen von Port-au-Prince glaubten, sie würden einen Fluch auf sich laden, wenn sie die Geheime Kammer nicht aufsuchten und taten, was richtig war.
    So stand Jean-Claude jetzt lächelnd in der Kammer und betrachtete die Schale voller US-Dollar und heimischer Währung. Sogar ein paar Schmuckstücke waren dabei. Wer draußen vorüberging, musste ihn für einen gewöhnlichen Besucher halten; seine Rolle bei der Einrichtung der Kammer war niemandem bekannt außer den paar Heiligen Männern, deren PR-Talente er sich zunutze gemacht hatte.
    Er hob eine weggeworfene Lebensmittelverpackung vom Boden auf, als das Licht flackerte und dann erlosch. Da alle vier Türen geschlossen waren, war es jetzt stockfinster in der Kammer. Im Stillen verfluchte Jean-Claude die Elektrizitätswerke.
    Aber es blieb nicht lange dunkel. Jemand riss dicht hinter ihm ein Streichholz an. Anscheinend hatte der Stromausfall die automatische Schließanlage ausgeschaltet, denn sonst hätte der Mann nicht hier sein können.
    »Verzeihung, aber hier darf immer nur eine Person herein. Das ist die Regel.«
    »Ich kenne die Regel, Monsieur Paul.« Die Stimme kannte er nicht. Sie sprach Französisch, nicht Kreolisch.
    »Nun, vielleicht gehe ich dann besser hinaus, damit Sie tun können, was Sie hier zu tun haben.«
    »Aber dazu brauche ich Sie hier.«
    »Nein, nein. Das hier ist privat und vertraulich, mein Freund. Darum nennen wir es die Geheime Kammer. Was hier vorgeht, ist geheim.«
    Das Streichholz war jetzt heruntergebrannt, und pechschwarze Dunkelheit erfüllte den Raum.
    »Hallo? Sind Sie noch da?«
    Keine Antwort. Es war totenstill, bis Jean-Claude plötzlich aufschrie, als zwei starke Hände sich um seinen Hals schlossen. Er wollte protestieren, wollte fragen, was er getan habe, wollte dem Mann erklären, dass er so viel Geld mitnehmen könne, wie er brauche – es gebe doch keine Einschränkungen, keine Maximalsumme. Aber er bekam keine Luft.

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