Die Geschichte der Anna Waser (German Edition)
der Tiefe versinkt. Hatte er wohl solches geahnt oder hatte der Tod ihn mit dem Bewußtsein vollendeter Tat und aus einer frohen Hoffnung von hinnen genommen? Ja, dann war es vielleicht doch der gute Tod, und sie durfte nicht klagen, daß er für sie unzeitig gekommen, so übel unzeitig, daß sie daran fast zerbrach …
Schon manchen trüben Winter hatte Anna erlebt — damals, als Lux von ihr gegangen und alles schmerzlich war und düster und voller Verzweiflung, und dann wieder, als der arme Johannes im Sterben lag und sie um Lisabeths Leben kämpfte — aber so einsam war keiner gewesen wie dieser. Lichtlos reihten sich die langen arbeiterfüllten Tage in der einsamen Stube; die kleinlichen Aufträge mehrten sich, und die erfreulichen nahmen nicht zu.
Zu jeglichem eigenen Werk aber fehlten Kraft und Aufschwung der Seele in dieser pflichtbeherrschten, erstickten Zeit. Was sie auch tat, alles ging ihr bloß von Händen — Kopf und Herz hatten keinen Anteil daran — und ging ihr zu leicht von Händen. Nur die Augen röteten sich ob der subtilen Arbeit, und der Rücken schmerzte. Rudolf aber, dem all das freudlose Mühen galt, ließ wenig von sich hören. Nur seltene Grüße hier und da und flüchtiges Gerede, daraus man nicht vernahm, wie das Soldatenleben ihm anschlug, ob es ihn hob oder niederdrückte. Und so war es auch sonst. All das Lauschen nach draußen blieb fruchtlos. Langsam schienen die Wege, die in die Welt führten, einzugehen. Von Werners wußte sie fast nichts mehr; nur selten kamen Sibyllas grämliche Briefe mit viel Klagen und wenig Nachrichten, inhaltsarm und undurchsichtig; von Braunfels fehlte jegliche Kunde, und auch die Marquise war verstummt, ganz verstummt seit jener Absage. Und als im Frühling die Nachricht vom Tode des Herrn Andreas Morell eintraf, war es Anna, als ob der letzte glänzende Faden zerrissen wäre, der ihr kleines Leben mit dem großen weiten verband, sodaß sie nun ganz zurücksinken mußte in Dunkel und Enge.
Aber da brachte gerade der Frühling eine kleine Wendung. Elisabeth, deren häusliche Arbeit seit Marias Rückkehr schier überflüssig geworden war, ließ sich von Anna in die Geheimnisse der Kalligraphie einführen, und sie zeigte eine so glückliche Hand für diese zierliche Kunst, daß sie ihrer Lehrmeisterin bald nichts nachgab. So kam es, daß Anna auf einmal nicht mehr allein war in ihrer Malstube und daß sie nach und nach jene Aufträge, die sie nur mit widerstrebendem Herzen angenommen, der Schwester übertragen konnte und wieder freie Hände bekam für die geliebtere Arbeit.
Und nun schien man endlich auch in der Vaterstadt zu entdecken, daß die Waserin nicht allein Kopien und dekorative Stücke anzufertigen berufen war, es kamen Porträtaufträge. Freilich waren es fast durchwegs die billigeren Silberstiftzeichnungen, die man bestellte — die Malereien, die sie zu schaffen noch Zeit und Anlaß fand, wanderten nach wie vor durch Herrn Lukas Hofmanns Hände in die Fremde, zumal nach England; aber die heimischen Arbeiten führten Anna aus ihrer Malstube hinaus und in die Häuser der Bürger. So wurde ihr Leben auf einmal lebendiger und jünger. Mancherorts in den alten strengen Patrizierhäusern und auf den schlichten Landsitzen am See fand sie eine feine, von allerlei Lustbarkeit durchdrungene Geselligkeit, solche sie hinter den nüchternen Mauern und ernsthaften Gebärden nicht vermutend gewesen und wie man sie in ihrem pflichtstrengen Vaterhaus nicht kannte.
Sie selbst wurde hineingezogen in das heitere Wesen, und ihre gesellschaftlichen Gaben, die seit Braunfels lange brachgelegen, gelangten zur Geltung und erweckten Bewunderung. Immer mehr fühlte sie, die früher so Einsame, sich als Mittelpunkt eines kleinen Kreises von jungen Mädchen, die ihr schwärmerisch anhingen und eifersüchtig um ihre Freundschaft warben, und von Jünglingen, die es nicht viel anders taten. Mit Staunen erst und einer Art Neubegier, aber dann mehr und mehr mit einem schier kindlichen, ein wenig prickelnden Vergnügen genoß Anna das alles, das amüsantere Leben und Ehrungen und liebende Verherrlichung. Angenehme Worte und bewundernde Blicke — erfreulich war es schon, man konnte ein wenig aufblühen darunter wie Pflänzlein unter der Sonne, und manches Gewicht löste sich in den schmeichelnden Wellen dieses leichteren Lebens, und manche Tiefe deckte sich zu, daß man unbekümmerter wurde und der Schranken beinahe vergaß und der engen Mauern. Wenn sie am Sonntag nach
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