Die Geschichte eines Sommers
ihr kamen. Vielleicht würde eine schöne Bildergeschichte sie ja ein bisschen ablenken, gurrte Tante Nicey. Swan und ihre Brüder hatten während ihrer Zeit in der Sonntagsschule so viele Filztafeln mit Bildern ertragen müssen, dass sie sie nicht mehr sehen konnten, doch Blade, der so etwas nicht kannte, wollte gerne mitmachen.
Tante Nicey holte zahlreiche Bibelfiguren und biblische Requisiten aus Pappe hervor – eine Palme, ein Zelt, ein Stück Wüste, ein paar Schafe und Kamele –, auf deren Rückseite je ein Stückchen Filz klebte. Diese ließ sie von Lovey auf ganz bestimmte Stellen auf die Filztafel drücken, wo sie wie durch Zauberei haften blieben, während sie selbst die Geschichte von David und Goliath erzählte. Als sie zu der Stelle kam, wo der Riese auf kleinen Menschen herumtrampelt und sie zu Mus zerquetscht, kniff Blade sein Auge zusammen und ballte die Fäuste.
»Dieser fiese alte Hurensohn!«, rief er außer sich vor Zorn.
Tante Nicey musste mehrmals schlucken. Dann sagte sie, wer sündige, müsse dafür furchtbar zahlen, und auch Goliath habe später dafür zahlen müssen.
Am späteren Nachmittag meinte Tante Nicey, die ganz erschöpft vom vielen Nettsein war, dass den Kindern ein Nickerchen doch sicher guttun würde. Da der Vorschlag auf erheblichen Widerstand stieß, legte sie einen Stapel Geschichtenbücher auf den Couchtisch und verschwand mit Lovey im Schlepptau in ihrem Schlafzimmer.
Als Sid kurz darauf anrief, um zu sagen, dass Toy am Leben bleiben würde, nahm Swan das Gespräch entgegen und gab die Nachricht an die Jungen weiter. Sie rissen die Münder weit auf und jubelten lautlos, um nur ja niemanden zu wecken, der in schlafendem Zustand besser zu ertragen war als im wachen. Danach fiel es ihnen immer schwerer, brav zu sein, also gaben sie es schließlich auf. Bienville und Noble lieferten sich auf Niceys schönem Hartholzboden einen Ringkampf, und Blade stupste Swan immer wieder in die Rippen und lief weg. Nach dem vierten oder fünften Mal rannte Swan hinter ihm her und trieb ihn neben einem Tisch voller gläserner Nippsachen in die Enge.
»Was ist denn nur in dich gefahren?«, wollte sie wissen.
»Nichts!«, schrie er unter schallendem Gelächter und küsste sie mitten auf den Mund.
Toy durfte nur einen einzigen Besucher empfangen, und da sie seine Frau war, wurde Bernice diese Ehre zuteil. Toy, der an mehrere Geräte angeschlossen war, hatte eigentlich gar keine Kraft, um zu reden, versuchte es aber trotzdem.
»Sieht so aus, als müsstest du mich noch länger ertragen«, krächzte er mühsam.
Bernice streichelte seinen Arm, küsste ihn auf die Stirn und schenkte ihm das zärtlichste Lächeln der Welt.
»Gott sei Dank, dass du noch am Leben bist«, log sie ungeniert.
32
Es wurde nicht ausdrücklich beschlossen, dass Willadee sich um das »Never Closes« kümmern sollte, es wurde einfach angenommen. Schließlich war sonst niemand da, der es hätte tun können, und die Familie brauchte das Geld. Als Sam Lake klar wurde, was passieren würde, hatte er immer stärker das Gefühl, als würde Gott ihn in den Staub treten.
»Du brauchst das nicht zu tun, Willadee«, sagte er in der Frühe zu ihr, einen Tag, nachdem Toy angeschossen worden war. »Gott hat immer für all unsere Bedürfnisse gesorgt.«
Willadee hatte alle Hände voll damit zu tun, im Haus aufzuräumen und die Wäsche zu waschen. Sie hoffte, mit allem fertig zu sein, bevor die Kinder aus der Schule kamen, um sich noch ein wenig ausruhen zu können. In der letzten Nacht hatte sie nur sehr wenig Schlaf bekommen, und diese Nacht würde es noch schlimmer werden.
»Dann sag mir Bescheid, wenn er wieder damit anfängt«, sagte Willadee. Sie fühlte sich vollkommen ausgelaugt und zerschlagen.
Samuel stritt nicht mit ihr. Er schwieg einfach nur. Als er und Willadee geheiratet hatten und der Pfarrer sie gefragt hatte, ob sie ihren Mann lieben, ehren und ihm gehorchen wolle, hatte sie wie eine echte Moses geantwortet.
»Ja, ja und kommt drauf an«, hatte sie grinsend gesagt.
Die Familie Moses hatte gelacht, die Familie Lake war zusammengezuckt, und Sam Lake hatte die Bedingungen seiner Braut akzeptiert. Bis jetzt hatte das nie zu ernstlichen Problemen geführt.
Als er an diesem Tag zur Arbeit fuhr, bat Samuel Gott, ihm ein Zeichen zu geben, ihm zu zeigen, was er tun sollte.
Er befand sich gerade am Stadtrand von Magnolia, als er das Gebet sprach, und war noch keinen ganzen Block weiter gefahren, als ihm eine Reihe
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