Die Gesellschaft des Abendsterns
Lebensformen in ihren jeweiligen Behältnissen beherrschten Bücherstapel den Raum. Bei der Mehrheit handelte es sich um dicke Nachschlagewerke und in Leder gebundene Tagebücher früherer Verwalter von Fabelheim. Aus den Tagebüchern ragte eine Vielzahl von Lesezeichen an interessanten Stellen, auf die Vanessa während ihrer Nachforschungen gestoßen war.
»Ich bin mir nicht sicher, ob ich umringt von so vielen unheimlichen Tieren schlafen könnte«, sagte Kendra.
Vanessa klappte das Tagebuch zu, in dem sie gelesen hatte, und markierte die Seite mit einem Seidenband. »Ich habe die wirklich gefährlichen Quirliwills harmlos gemacht, so wie die Drumanten. Keine der Kreaturen, die ich nach Fabelheim mitgebracht habe, könnte irgendjemandem ernsthaften Schaden zufügen.«
»Ich bin gestern Nacht gebissen worden«, bemerkte Kendra und streckte den Arm aus, um die Bisswunden in ihrer Ellbogenbeuge vorzuzeigen. »Bin nicht mal aufgewacht dabei.«
»Das tut mir leid«, sagte Vanessa. »Ich habe jetzt fünfzehn im Käfig.«
»Was bedeutet, dass noch vier frei herumlaufen«, imitierte Kendra Coulters schroffen Tonfall.
Vanessa lächelte. »Er meint es gut.«
»Es macht ihn mir nicht gerade sympathischer, wenn er
mit Seth davonmarschiert und mich zurücklässt. Wenn er mir die Entscheidung überlassen würde, würde ich bei einigen seiner Exkursionen wahrscheinlich freiwillig zuhause bleiben. Ich meine, ich muss nicht unbedingt mitansehen, wie ein Büffel bei lebendigem Leib gefressen wird. Aber gesagt zu bekommen, dass ich nicht mitdarf, ist etwas anderes.«
Vanessa stand auf und ging zu einer Kommode hinüber. »Ich vermute, ich würde genauso empfinden.« Sie öffnete eine Schublade und begann darin zu stöbern. »In Anbetracht dieser Umstände scheint es mir nur fair, dass ich ein kleines Geheimnis mit dir teile.« Sie nahm eine Kerze heraus und etwas, das wie ein langer, durchsichtiger Bleistift aussah.
»Was ist das?«, fragte Kendra.
»In Regenwäldern überall auf der Welt gibt es winzige Geister, die Umiten genannt werden und die wie Bienen Honig und Wachs produzieren. Tatsächlich leben sie in beinahe bienenstockähnlichen Gemeinschaften. Dieser Stift und die Kerze bestehen aus Umitenwachs.« Vanessa schrieb mit dem durchsichtigen Wachsstift etwas auf die Vorderseite der Schublade. »Siehst du etwas?«
»Nein.«
»Schau zu.« Vanessa schlug ein Streichholz an und entzündete die Kerze. Sobald der Docht brannte, erstrahlte die gesamte Kerze gelb, ebenso wie der Stift und eine deutlich lesbare Nachricht auf der Vorderseite der Schublade:
Hey, Kendra!
»Cool«, sagte Kendra.
»Versuch, die Schrift wegzuwischen«, erwiderte Vanessa.
Kendra versuchte vergeblich, die Worte zu entfernen. Als Vanessa die Kerze ausblies, verschwand die Nachricht wieder. Vanessa reichte Kendra den Stift und die Kerze. »Für mich?«, fragte Kendra.
»Ich habe noch mehr davon. Jetzt können wir einander geheime Nachrichten schicken, und keiner der Jungs wird etwas davon mitbekommen. Ich habe immer einen dieser Stifte bei mir. Sie schreiben überraschend gut und auf fast jeder Oberfläche, die Nachrichten sind schwierig auszulöschen, und nur wer eine verzauberte Umitenkerze hat, kann sie lesen. Mit Umitenwachs kann man Wege markieren, Freunden heikle Botschaften senden und wichtige Geheimnisse aufschreiben.«
»Danke, was für ein großartiges Geschenk!«
Vanessa zwinkerte. »Jetzt sind wir Brieffreundinnen.«
Seth beobachtete, wie Coulter die Stufen zur hinteren Veranda hinaufging und ins Haus trat. Er wusste, dass sein Zeitfenster kurz war, deshalb rannte er, so schnell er konnte, an der Scheune vorbei zu einem Baum neben einem Pfad in den Wald. Es war derselbe Pfad, der zu dem Gewächshaus führte, in dem er und Kendra im vergangenen Jahr Kürbisse geerntet hatten. Heute Morgen hatte Seth, bevor irgendjemand sonst wach gewesen war, unter einem Stein am Fuß dieses Baumes eine Notiz hinterlassen.
Nachdem Kendra im vergangenen Jahr Fabelheim gerettet hatte, hatte Seth, während seine Schwester zwei Tage durchschlief, sich heimlich mit den Satyren Newel und Doren getroffen. Die meisten Bewohner Fabelheims durften den Hof nicht unaufgefordert betreten, deshalb hatten die Satyre am Rand des Hofs gestanden und Seth zu sich gewunken. Sie waren übereingekommen, dass Seth bei seiner Rückkehr nach Fabelheim C-Batterien — dicke Monozellen —mitbringen und eine Notiz unter dem Stein hinterlassen sollte. Newel und Doren
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