Die Gewürzhändlerin
Sehr weit entfernt von der Wahrheit war Martins Mutter nicht. Es war Martin gewesen, der kraft seiner Selbstbeherrschung verhindert hatte, dass sie genau das getan hätte, was Augusta ihr nun vorwarf. Aber nicht aus Ehrgeiz! Nicht weil sie sich einen Gegenwert davon versprach, sondern …
Die Erkenntnis traf sie vollkommen unvorbereitet. Sie hätte sich ihm hingegeben, weil sie es von Herzen gewollt hatte. Weil sie ihn gewollt hatte. In jenem Augenblick hatte es nur sie beide gegeben: keine Standesunterschiede, keine Brandnarben – nur zwei Menschen, die danach verlangten, eins zu werden.
Luzia hielt den Blick weiterhin zu Boden gerichtet. «Ich habe das, was Ihr mir vorwerft, nicht getan, Frau Augusta. Und ich würde es niemals tun. Nicht aus solch niederen Beweggründen.» Sie schluckte und hob wieder den Kopf. «Ihr könnt mir dies glauben oder auch nicht. Doch wenn ich ein so schlechter Mensch bin, wie Ihr sagt – weshalb sollte ich Euch dann noch anlügen?» Sie schwieg einen Moment, bevor sie fortfuhr: «Mir liegt viel an Martins Freundschaft. Natürlich ist mir bewusst, dass ich mehr niemals verlangen darf. Das werde ich auch nicht.»
«Er wird sich über kurz oder lang verheiraten», sagte Augusta etwas ruhiger.
«Die Therese. Das weiß ich.»
«Sie ist ein braves Mädchen, eine gute Wahl.»
«Da habt Ihr recht, Frau Augusta.» Luzia schluckte erneut, da sie bemerkte, dass ihre Stimme leicht zu schwanken begann.
«Ihr werdet ihm nicht im Wege stehen.»
«Nein, das werde ich nicht.» Luzia wandte sich zum Gehen. «Ich denke, es ist besser, wenn ich für heute nach Hause gehe.»
«Wartet.» Augustas Stimme hatte sich unmerklich verändert. «Er hat Euch einen Brief geschickt – und ein Päckchen.» Sie deutete auf das Schreibpult, auf dem neben einem gesiegelten Schriftstück ein in Wachstuch genähtes Kästchen lag.
Luzia hielt in der Bewegung inne und starrte beides überrascht an. «Wann?»
«Der Bote traf vor etwa zwei Stunden hier ein.» Augusta verschränkte die Arme und musterte Luzia unfreundlich. «Öffnet den Brief in Gottes Namen!» Sie schüttelte unwirsch den Kopf. «Ihr behauptet, zwischen Euch sei nichts vorgefallen – dabei schreibt er Euch und hat für seine Familie nicht einmal eine gesonderte Nachricht übrig.»
Luzia runzelte die Stirn. Dieser Umstand überraschte sie ebenso wie Augusta, wenn nicht sogar noch mehr. Rasch nahm sie den Brief, brach das Siegel auf und faltete den Pergamentbogen auseinander. Während sie las, wurden die Furchen auf ihrer Stirn noch tiefer.
Liebwerte Luzia Bongert,
diesen Brief schicke ich Euch, um Euch mitzuteilen, dass die Ludwina auf Grund gelaufen ist. Es wird noch ein paar Tage dauern, bis sie wieder fahrtüchtig ist. Einstweilen werde ich in Mainz bleiben und einige Geschäfte abschließen. Nehmt das Geld, welches ich Euch mit diesem Brief schicke, und bewahrt es für mich auf, denn es ist für den Judenkredit bestimmt. Schweigt darüber, denn ein Aufsehen möchte ich tunlichst vermeiden. Der Zeitpunkt meiner Rückkehr ist noch unbestimmt, und ich bitte Euch, die Geschäfte in Koblenz derweil in meinem Sinne weiterzuführen. Bestellt meiner verehrten Frau Mutter einen Gruß.
Martin Wied
Verwundert hob Luzia den Blick von dem Brief. Sie war zunächst sehr erstaunt, dass Martin sie wieder mit dem förmlichen «Euch» anredete, nachdem er sie doch seit der gemeinsamen Nacht auf Burg Kempenich duzte. Plötzlich kam ihr in den Sinn, dass er möglicherweise davon ausging, auch andere würden dieses Schreiben lesen, vor denen er das vertraute Verhältnis zwischen ihnen beiden verheimlichen wollte. Und so reichte sie wortlos den Brief an Augusta weiter.
Martins Mutter las – und schüttelte dann den Kopf. «Was ist das denn?»
Luzia nahm ihr das Schreiben wieder ab und las es erneut. Dabei spürte sie, wie das Kruzifix zu vibrieren begann. Rasch legte sie den Brief beiseite und griff nach dem Päckchen. Es war überraschend schwer.
Augusta reichte ihr ein Messerchen, mit dem sie das Wachstuch aufschnitt. Zutage kam eine metallene Geldkassette, die mit einem hübsch verzierten Riegel verschlossen war. Luzia schob ihn zurück, klappte den Deckel auf – und stieß einen verblüfften Laut aus. Die Kassette war randvoll mit Silber- und Goldstücken angefüllt.
«Ach du liebe Zeit», sagte sie. «Das hat er einem einfachen Boten mitgegeben?»
Augusta schüttelte den Kopf. «Einem bewaffneten städtischen Berittenen aus Mainz», antwortete sie.
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