Die Gilden von Morenia 01 - Die Lehrjahre der Glasmalerin
Ranis Aufmerksamkeit. »Ja, wir kennen den Namen ›Ranita‹, und wir wissen, wie die Verräterin aussieht, die wir suchen. Und wir vermuten, dass ihr sie auch kennt und dass zumindest einer von euch sie gerade jetzt versteckt, im Rahmen eures fehlgeleiteten Plans, das Haus Jair zu stürzen. Als treue Soldaten des genannten Hauses müssen wir alles in unserer Macht Stehende tun, um euch zu helfen, euch der Treue zu eurem König zu erinnern.«
Der Soldat vollführte eine kurze Geste, und einer seiner Männer stürzte sich in die Horde der Lehrlinge, die am Fuße des Podests standen. Rani unterdrückte einen Schrei, als der Soldat aus dem Chaos um sich schlagender Arme und um sich tretender Beine wieder hervorkam und Larinda an den Haaren hinter sich herzog. Bevor sich einer der benommenen Glasmaler regen konnte, zog der Soldat eine Klinge aus seinem Gürtel. Larinda hatte nicht einmal die Chance, sich ihm zu entziehen, bevor sie aufschrie und vier Finger hochhielt – an der Stelle, wo ihr Daumen gewesen war, ragte ein blutiger Stumpf empor. Der Soldat trat den Daumen fort und knebelte das schreiende Mädchen auf einen knappen Befehl seines Offiziers hin.
Rani schluckte die plötzliche Übelkeit hinunter, die in ihrer Kehle aufstieg, und tat einen tiefen Atemzug gegen den Schwindel, der sie auf den Boden des Refektoriums zu befördern drohte. Selbst wenn sie sich übergeben hätte, wäre es höchst unwahrscheinlich gewesen, dass das Geräusch bei dem Tumult im Raum dort unten hätte gehört werden können. Ausbilder und Gildemitglieder schrien auf, und die Horde entsetzter Lehrlinge drohte an den blank gezogenen Schwertern der Soldaten vorbeizupreschen.
»Ihr Bastarde!« Salinas Stimme erhob sich über das Chaos. »Sie ist noch ein Kind!« Salina streckte die Arme aus, und Larinda suchte zitternd Schutz, barg ihr Gesicht in den üppigen Gewändern der Gildemeisterin, noch während Parion vortrat, um die Blutung der Wunde zu stillen. Der Hauptmann der Wache trat drohend einen Schritt auf das Trio zu, zog sich aber wieder zurück, als das Gemurmel der Glasmaler in Wut umschlug.
»Ja, sie ist ein Kind«, sagte er. »Und die Verräterin, die Prinz Tuvashanoran in den Tod rief, war auch ein Kind. Wir werden in jeder Dämmerung ein Kind zeichnen, bis ihr uns eure mörderische Ratte ausliefert.«
Ranis erster Gedanke war, von der Galerie zu fliehen, in die Sicherheit ihrer Kindheit und den Luxus der Umarmung ihrer Mutter zurückzuflüchten. Ihr zweiter Gedanke war ehrenhafterer Natur, und sie befahl sich, die enge Galerietreppe hinabzulaufen und sich ihren Weg ins Refektorium zu erzwingen, um ihre Mitlehrlinge zu retten. Ihr dritter Gedanke gewann jedoch die Oberhand. Es bestand keine Chance, eine Konfrontation mit den Soldaten zu überleben. Sie waren sich sicher, dass sie schuldig war. Sie wussten, dass sie Tuvashanoran getötet hatte.
Tatsächlich konnte sie kaum Argumente zu ihrer Verteidigung vorbringen – sie war schuldig, weil ihre Worte den Prinzen zu seiner Hinrichtung gerufen hatten. Ihre tatsächliche Unschuld würde von einem Mann wohl kaum erwogen werden, der bereit war, einem unschuldigen Kind den Daumen – den Daumen! – abzuhacken.
Und so blieb Rani auf der Galerie und umklammerte die Steinbalustrade, während die Wächter ihre Aufgabe vollendeten. Sie war kaum überrascht, als ein junger Soldat das Refektorium betrat und die Kugel hochhielt, welche die Macht der Glasmalergilde symbolisierte.
Jede Gilde in der Stadt besaß ihre Kugel, die ihrem jeweiligen Gott geweiht war und vom Hohepriester in jährlichen, sehr feierlichen Zeremonien gesegnet wurde. Selbst jetzt konnte sich Rani vorstellen, wie der Heilige Vater im Versammlungsraum des Gildehauses stand und Clain, den Gott der Glasmaler, anrief, während der Verteidiger des Glaubens, Shanoranvilli, Salina eine große Börse voller Goldmünzen reichte und sie damit für die im vergangenen Jahr vorbildlich ausgeführten, königlichen Aufträge entlohnte.
Die Kugel der Glasmaler war, ihrem Handwerk gemäß, aus Glas gestaltet. Es war eine alte Handwerksarbeit, das Flechtwerk aus Blei so zart wie Spinnfäden. Jeder zerbrechliche Metallrahmen enthielt ein so dünnes Glaspaneel, dass es in der Luft zu schimmern schien. Blau vermischte sich wirbelnd mit Rot und Grün und Gelb – aufregende Farben, die eine Landkarte Morenias darstellten, so gestaltet, dass sie wie ein Globus der ganzen Welt erschien.
Als Rani der Gilde zum ersten Mal vorgestellt
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