Die Gilden von Morenia 01 - Die Lehrjahre der Glasmalerin
heiliges Zeichen vor dem Mann, welcher der Verteidiger des Glaubens gewesen wäre.
Und bei dieser Bewegung erhaschte Rani einen Blick auf den dritten Tisch, zu ihrer Linken. Nur einen Augenblick weigerte sich ihr Geist, den entsetzlichen Anblick zu registrieren. Hätte sie am Fuß der Plattform gestanden, hätte sie vielleicht nicht einmal erkannt, was sie vor sich hatte, aber das vermodernde Gewand, die schmutzigen Hände mit den abgebrochenen Nägeln und kreuzförmigen Narben und die blau verfärbten Arme waren aus dieser Perspektive unverkennbar. Auf dem dritten Tisch befanden sich die sterblichen, kopflosen Überreste der Ausbilderin Morada.
»Das genügt!«, schnappte Pater Aldaniosin und zog ihre Aufmerksamkeit damit wieder auf Tuvashanoran. »Es wird noch genügend Zeit sein, den Prinzen zu ehren, wenn er auf seinem Scheiterhaufen liegt. Heute Nacht müssen wir sie noch beerdigen.« Der Priester spie auf Moradas zerrissenen Umhang, und Rani hob ruckartig den Kopf.
»B-Beerdigen, Pater?« Sie hatte gewiss Vergeltung gegenüber einer Frau erwartet, die als Verräterin angeklagt war, aber ihr Fleisch den Würmern vorzuwerfen! »Das muss ein Irrtum sein…«, begann Rani erstickt.
Pater Aldaniosin hörte sie kaum. Er trat bereits zum Alabasterkörper des Prinzen. »Ein Irrtum? Gewiss war da ein Irrtum. Ich weiß nicht, was Bruder Hospitalar sich dabei gedacht hat, als er den Mund Seiner Hoheit mit Schwarzwurz zuband. Dennoch sollte es nichts schaden, wenn wir nun dein Ladanum auf seine Zunge legen. Immerhin zählt die Stimme, mit der er durchs Feuer spricht, die Worte, welche die Tausend Götter erreichen, wenn er aus dieser irdischen Hülle befreit wird.« Der Priester bekreuzigte sich fromm.
»Ladanum?«, wiederholte Rani.
»Gewiss. Das ist der formelle Name für das Kraut in deinem Kästchen. Vermutlich hat Bruder Infirmar es mit dem gewöhnlichen Namen bezeichnet, als er dich schickte – Myrrhe. Einen Lebenden könnte es vergiften, aber für die Toten…«
In diesem Moment beendeten die Andächtigen eine Hunderterreihe ihrer Gesänge, beendete die Sequenz der Götter der Natur. Rani schrak beinahe zurück, als sie zu den Göttern der Gilde zu singen begannen, und sie ertappte sich dabei, dass sie auf die Erwähnung des speziellen Beschützers der Glasmaler, Clain, lauschte. Vielleicht lebte die Gilde der Glasmaler in gewisser Weise weiter. Bevor Rani jedoch ihre ganze Aufmerksamkeit den Sängern zuwenden konnte, strich Aldaniosin das schneeweiße Leinentuch glatt, das den Prinzen bedeckte.
»Nun komm her. Wir haben nicht die ganze Nacht Zeit. Bring die Kräuter herüber.«
»Aber Pater…«
»Keine Ausflüchte mehr!« Der Priester ragte über ihrer zitternden Gestalt auf. Rani hatte ein gutes Kind sein wollen. Sie hatte gestehen wollen, dass sie nur gekommen war, um den Zehnten der Händler zu überbringen. Nichtsdestotrotz bannte sie Pater Aldaniosins fester Befehl.
Ihr Schicksal wurde besiegelt, als sich der Tonfall des Priesters väterlicher Anleitung anglich. »Komm schon, Kind. Der erste Leichnam, um den du dich kümmerst, ist immer der schwerste. Dies ist ein kritischer Punkt deiner Ausbildung, wenn du Priesterin werden willst. Du solltest dich geehrt fühlen, dem Prinzen diese letzte Ehre erweisen zu dürfen.«
Dem Prinzen Ehre erweisen. In dieser Hinsicht hatte Rani bis jetzt kläglich versagt, trotz ihrer besten Bemühungen, die Ordnung der Kasten der Stadt zu beachten. Weit davon entfernt, dem Adel zu dienen, wie es ein guter Händler tun sollte, hatte sie Tuvashanorans Tod verursacht. Dennoch bot ihr Pater Aldaniosin eine karge Möglichkeit, ihre Sünde wiedergutzumachen. Er bot ihr Erlösung von der Schuld, die ihr Gewissen plagte. Wenn sie Tuvashanoran den Übergang in die Welt der Tausend Götter erleichtern könnte… Wenn sie seine Schritte auf den vom Pilger Jair geprägten Weg lenken könnte, dann könnte sie vielleicht für ihre Rolle beim Ableben des Prinzen Abbitte leisten – wie unwissentlich ihr Aufschrei in der Kathedrale auch immer erfolgt sein mochte.
Schließlich war sie schon früher mit Toten umgegangen – der kleine Säugling, den ihre Mutter geboren hatte, als Rani selbst erst sechs Jahre alt war, der namenlose, kleine Bruder, der seine erste Nacht in der kalten Luft der Stadt nicht überlebt hatte. Aber die Aufgabe, die der Priester von ihr verlangte, stand nur jenen zu, die heilige Schwüre geleistet hatten oder zumindest die vorbereitenden Bindungen eines
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