Die Gilden von Morenia 01 - Die Lehrjahre der Glasmalerin
Akoluthen eingegangen waren. Rani zögerte jenseits des Lichtkreises von Pater Aldaniosins Laterne, fürchtete, die Sünde der Handhabung von Toten zu bekennen, fürchtete zu gestehen, dass sie kein Mitglied der Priesterkaste war.
Pater Aldaniosin, der ihr Zögern missdeutete, schnalzte aufgebracht mit der Zunge. »Ich weiß nicht, wo wir heutzutage unsere Postulanten herbekommen.« Er packte ohne Vorwarnung mit klauenähnlichen Fingern ihren Arm und zog sie zum Altar. Er nahm ihr das Holzkästchen aus den Händen, stellte es auf den Rand von Prinz Tuvashanorans Totenbahre, ergriff ihre Handgelenke und legte ihre starren Finger auf die tote Haut des Prinzen.
»Da!«, rief er aus. »War das so furchtbar?«
Nach dem anfänglichen Schock war die Gestalt auf dem Tisch nicht mehr so beängstigend, wie es Rani vorgekommen war. Die Haut des Prinzen war so kalt, dass er aus Wachs gemacht sein könnte. Nichts war von dem Menschen geblieben. Die Tausend Götter würden sie gewiss nicht dafür bestrafen, dass sie Sühne zu leisten versuchte, wenn es dazu nur erforderlich war, mit dieser Hülle eines früheren Menschen umzugehen. Nach einer überraschten Pause nahm auch der Chor der Andächtigen seinen Gesang wieder auf. Rani widerstand dem Drang, ein heiliges Zeichen zu vollführen, als der Name Clains über ihre Lippen drang. Die Glasmaler waren also nicht vollständig aus der Stadt getilgt.
Rani bemerkte, dass Pater Aldaniosin auf eine Antwort wartete. »Nein, Pater«, brachte sie hervor. »Verzeiht meine Torheit.«
»Verzeiht, verzeiht, verzeiht – mehr könnt ihr Postulanten nicht sagen. Nun, gehen wir an die Arbeit – wir werden zunächst die Myrrhe in diesem Kästchen dort zu Ende gebrauchen, bevor wir zu den Kräutern wechseln, mit denen man dich geschickt hat. Gewiss werden wir keine dafür verschwenden.« Pater Aldaniosin warf durchdringende Blicke auf Moradas Leichnam, und Ranis Vertrauen in ihre neu gefundene Berufung schwankte. »Hier, ich werde ihn halten, während du das Tuch windest. Bring das Ladanum gleichmäßig auf – du wirst dort noch weiteres brauchen.«
Rani schluckte gegen ein Brennen in ihrer Kehle an und begann, das fein gewobene Leinen abzuwickeln, wobei sie sich bemühte, den Prinz nicht direkt zu berühren. Pater Aldaniosin wartete, bis sie die ersten Salbungen der königlichen Füße vorgenommen hatte, und bemerkte dann: »Es könnte nicht schaden, wenn du mit den Andächtigen singen würdest.«
Rani nickte und wartete, bis das Trio seinen Wechselgesang beendet hatte. Beim nächsten Durchgang schloss sie sich ihnen mit ihrer Sopranstimme an, zögerte nur einen Moment, als sie erkannte, dass sie die Gildegesänge beendet hatten und nun zu den Händlergöttern voranschritten. »Heil sei Hern, dem Gott der Händler, Führer von Jair dem Pilger. Betrachte diesen Pilger mit Gnade in deinem Herzen und Gerechtigkeit in deiner Seele. Führe die Füße dieses Pilgers auf die rechtschaffenen Wege der Lobpreisung, damit alles zu deiner und der Ehre deinesgleichen unter den Tausend Göttern geschieht. Dieser Pilger bittet um die Gnade deines Segens, Hern, Gott der Händler.«
Es war eine uralte Formel, seit Jahrhunderten in und um die Kathedrale wiederholt. Es waren die ersten Worte, an die sich Rani erinnerte, denn ihre Mutter betete jeden Morgen und jeden Abend zu Nome, dem Gott der Kinder, wobei sie bei ihrer Bitte, die Kleinen, die sie liebte, zu beschützen, paradoxerweise Gebete für das Dahinschwinden eines Lebens mit anführte.
Daher kamen Rani die Worte leicht über die Lippen, aber die Aufeinanderfolge der Götter nicht. Gewiss kannte Rani einige wenige der Verbindungen, welche jedes der anerkannten Händlergewerbe verknüpften. Die Goldschmiede kamen als Erste, dann die Kesselflicker, die Leder verarbeitenden Gewerbe, die Schneider… Es gab keinen Grund für diese Anordnung – keine andere Logik als Jairs eigenes Wort, denn er hatte die Tausend Götter als Erster anerkannt und ihre Gegenwart im Leben gewöhnlicher Menschen festgehalten.
Rani ließ sich von dem huldigenden Trio mittragen, schwieg gelegentlich beim dritten Wort des Gebetes kurz, ließ die anderen entscheiden, wem die nächste Verehrung gebührte.
Währenddessen wickelte sie die Glieder des Prinzen in makelloses Leichentuch. Pater Aldaniosin drehte den Körper weiterhin, rollte die schwere Last von einer Seite zur anderen, während Rani dem schneeweißen Tuch reinigende Kräuter beifügte. Sie bemaß das Ladanum so
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