Die Gilden von Morenia 01 - Die Lehrjahre der Glasmalerin
gezwungen gewesen, die Wahrheit bei ihrer Geschichte ein wenig umzugestalten. Sie konnte ihren Bruder gut genug beschreiben, dass Garadolo keinen Zweifel daran hegte, dass sie Bardo wirklich kannte. Sie hatte die verschlungenen Schlangen eindeutig erkannt, und sie nutzte jede diskrete Gelegenheit, um ihn an die verhängnisvolle Verbindung der Tätowierung mit der Bruderschaft zu erinnern. Dennoch hatte sie zugeben müssen, dass sie derzeit nicht wusste, wo sich Bardo aufhielt. Obwohl sie angedeutet hatte, es gäbe eine Art geheimen Familienmodus der Verständigung, um ihn aufzuspüren, hatte Garadolo erkannt, dass sie keine Möglichkeit hatte, ihren stadtbekannten Bruder direkt zu kontaktieren. Zumindest nicht sofort.
Rani verabscheute die Tatsache, dass sie Garadolos Hilfe benötigte. Sie wollte nur sehr ungern einem Mann vertrauen, der junge Mädchen begrapschte. Dennoch war niemand sonst da, an den sie sich hätte wenden können. Während anscheinend die halbe Stadt das kryptische Zeichen der Schlange trug, kannte sie keine andere lebende Person mit der Tätowierung der Bruderschaft. So sehr sie der Soldat auch anwiderte, und so verängstigt sie auch war, obwohl sie das niemals zugegeben hätte, erkannte sie doch, dass er ihre größte Chance darstellte, Bardo zu finden. Sie wollte sich nicht vorstellen, was sie tun würde, wenn er ebenso durch Unglücksfall und Tod hingestreckt worden wäre wie all die anderen, die sie mit dem Abzeichen der Bruderschaft gefunden hatte.
Nun, während Rani mit einem knusprigen Kanten Brot den Rest von ihrem Eintopf aufnahm, beobachtete sie, wie Garadolo seinen schweren Krug leerte. Der Schaum klebte noch an seinem Schnurrbart, als er vom Tisch aufstand. »Ich gehe zu den Baracken zurück. Ich weiß nicht, wohin du gehst, aber du solltest dich nach der Sperrstunde besser nicht mehr auf der Straße erwischen lassen. Heute war Vertreibungstag, wie du weißt.«
Der Mann hielt sich für sehr schlau und kicherte über seinen sarkastischen Ratschlag. Rani wurde zornig und widerstand dem Drang, sich ihren linken Bizeps zu reiben, wo Garadolos Finger hässliche, sich verfärbende Quetschungen hinterlassen hatten. Wenn sie nur auf Mair gehört hätte und mit den anderen Unberührbaren-Kindern zu den Stadttoren gelaufen wäre… Wenn sie nur nicht solche Angst gehabt hätte. »Das habe ich gehört«, murrte sie. »Wir sollten besser aufbrechen.«
Wie Rani es beabsichtigt hatte, brachte ihre nüchterne Ankündigung Garadolo vollkommen durcheinander. Sie erhob sich von ihrer Bank, und sah ihn unverwandt an, während er sie nur anstierte. »Ich sollte in Eurer Nähe sein, wenn Ihr die Bruderschaft kontaktiert. Wenn ich gezwungen bin, Bardo selbst zu finden, wird es für Euch unangenehm. Wenn er hört, dass ich bei meiner Rückkehr zu ihm behindert wurde, wird er nicht erfreut sein.«
Garadolo fluchte leicht, brachte die Worte durch seinen verfilzten Bart knurrend hervor und atmete in schnellen, stinkenden Stößen. »Es ist nicht nötig, dass du das sagst, Mädchen. Überhaupt nicht nötig.«
»Dann wisst Ihr, wie Ihr zu Bardo kommt.«
»Ich weiß, wie ich anfangen muss. Und glaube mir, heute Nacht kann ich nichts mehr tun. Und jetzt komm zur Baracke zurück und ruh dich aus. Du musst müde sein, wenn du mit diesen Unberührbaren-Bälgern herumgelaufen bist.«
Rani hätte diesem ungehobelten Dummkopf gerne erzählt, dass sie nicht so müde gewesen wäre, wenn sie an diesem Tag nicht gegen ihn hätte ankämpfen müssen. Tatsächlich sehnte sie sich danach, ihn ganz loszuwerden, aber sie hatte nur sehr begrenzte Wahlmöglichkeiten. Einerseits konnte sie allein und voller Angst durch die Straßen wandern und versuchen, Mairs Schar zu finden, oder zumindest die Core, von der die Kinder gesprochen hatten. Andererseits konnte sie bei Garadolo bleiben und Bardo suchen.
Das einzige Problem, wenn sie Bardo wählte, war, dass sie sich mit Garadolo auseinandersetzen müsste. Nun, dachte sie seufzend, sie war an jedem Tag ihres Lebens erfolgreich mit hässlichen Dingen umgegangen – der Soldat konnte kaum schlimmer sein als das Entleeren von Nachttöpfen oder das Herausfischen von Gepökeltem aus entschäumter Salzlake.
Rani hätte diesen Entschluss fast zurückgenommen, als sie eine weitere Wolke des schalen Atems des Kriegers traf. Sie zwang sich, durch den Mund zu atmen, und antwortete auf die Hoffnung hinter seinen Worten. »Ich bin nicht müde, und die Unberührbaren sind keine Bälger. Ich
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