Die Gilden von Morenia 02 - Die Gesellenjahre der Glasmalerin
kalter Wind durch diese Straßen. Ein Hauch von Schnee lag in der Luft, und Hal wäre im Palast geblieben, hätte er unter seiner morgendlichen Tasse Glühwein nicht den Pergamentstreifen gefunden. Noch während er die Nachricht entfaltete, wusste er, was sie enthielt. Er brauchte seinen Diener nicht nach der Herkunft des Streifens zu befragen. Auch wenn Hal erst siebzehn Jahre alt war, lebte er doch bereits lange genug, um zu wissen, dass der Diener keine Ahnung hätte, wie die Nachricht auf das Tablett gelangt war. Die Gefolgschaft des Jair wollte es so.
Und die Gefolgschaft hatte gewiss nicht gezögert, ihn zu rufen. Er hatte erst gestern Morgen im Ratszimmer gegen Tasuntimanu Stellung bezogen, aber der Graf musste sich unmittelbar an die Hierarchie der Gefolgschaft gewandt haben. Hal hatte beim Lesen der ordentlich geschriebenen Worte genickt: »Der Pilger Jair wacht über alle seine Kinder, auch aus dem dunklen Gang, auch wenn sich die Sonne dem Mittag zuneigt.«
Hal wusste aus früheren verschlüsselten Botschaften, dass die Gefolgschaft ihr Schutzhaus erst vor zwei Wochen verlegt hatte. Der neueste Treffpunkt war eine kleine Hütte in einer schwer zu beschreibenden Straße. Hal hoffte nur, dass derjenige, den er dort treffen sollte, pünktlich zur Mittagszeit auftauchen würde. Es würde noch kälter auf den Straßen werden, sobald die Sonne ihren frühen Zug gen Westen anträte.
Hal blies in seine Hände, um sie zu wärmen, und dachte unwillkürlich an die Geschichten, die Rani ihm über die Bruderschaft der Gerechtigkeit erzählt hatte. Sie war Zeugin einiger ihrer Treffen in ähnlich baufälligen Hütten geworden. Sie wusste, wie Mitglieder von Geheimbünden in den dunklen Gängen verraten werden konnten, dort, wo Hals Soldaten nicht patrouillierten.
Ein Schaudern kroch das Rückgrat des Königs hinab, als er an die Ränke schmiedenden Verräter dachte, denen sich Rani beinahe angeschlossen hätte, an die Axt des Henkers, die deren Geschichte beendet hatte. Was würden Hals treue Berater tun, wenn sie entdeckten, dass ihr König in dunklen Gassen umherschlich und mit Schattenmächten Abkommen traf? Wie rasch würden sie ihn gefangen nehmen, hinrichten lassen?
Unsinn. Hal war der König. Er konnte kaum Verrat gegen sich selbst begehen.
Solch morbide Gedanken kamen ihm nur, weil er müde war, weil ihn die gestrige Ratssitzung erschöpft hatte. Es machte ihn müde und nervös, seine Taten vor der Gefolgschaft des Jair verteidigen zu müssen. Hal zog seinen schmutzigen Umhang enger um sich und widerstand dem Drang, die schäbige Straße hinauf und hinab zu blicken. Die königliche Wache würde einen Anfall bekommen, wenn sie erführe, dass sich ihr Lehnsherr in gewöhnlicher Hose und einem schmutzigen Hemd durch die Stadt stahl und auf die ganze Welt wie ein zerlumpter Unberührbaren-Junge wirkte, der zum ersten Mal in seinem Leben von seiner Schar befreit umherstreifte.
Es gab jedoch keinen Grund, warum die Wache es jemals herausfinden sollte. Mit etwas Glück würde niemand Hal überprüfen, bis die Sonne schon längst untergegangen war. Der König hatte sorgfältig ein Gerücht gefördert, das während seiner Zeit als seltsamer jüngerer Prinz am Hof seines Vaters entstanden war – ein Gerücht, das ihm jetzt, im Alter von siebzehn Jahren, mehr zugute kam als im Kindesalter. Hal ließ alle um ihn herum glauben, er leide manchmal unter Kopfschmerzattacken, unter pulsierendem Schmerz, der bewirkte, dass er nicht sprechen und nicht klar denken konnte. Seine einzige Rettung bei solchen Anfällen, so log er, sei der Schlaf – ungestörter Schlaf in einem vollkommen abgedunkelten Raum.
Er wusste, dass er ein gefährliches Spiel spielte. Kein geistig gesunder König würde freiwillig ein Bild fördern, das ihn als Invaliden darstellte. Aber es würde sich auch kein geistig gesunder König freiwillig einem im Untergrund agierenden, aus Menschen aller Kasten bestehenden Geheimbund anschließen, der auf ein geheimnisvolles, unbekanntes Ziel hinarbeitete. Er hatte keine andere Wahl, als er seine anfänglichen Entscheidungen traf. Er musste dafür sorgen, dass er dem Palast entkommen konnte, wenn es nötig war. Er brauchte die Freiheit, seine Verpflichtung der Gefolgschaft gegenüber zu erfüllen, seine Schuld der Bruderschaft gegenüber zu begleichen, die ihm zum Thron verholfen hatte, die ihm beigestanden hatte, als er am schwächsten und verletzlichsten gewesen war.
Hal schuldete der Gefolgschaft etwas. Er
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