Die Gilden von Morenia 02 - Die Gesellenjahre der Glasmalerin
bereits, die er bekommen würde. Aber er konnte nicht anders. In der Hoffnung, dass er nicht in eine Falle tappte, und darum betend, dass das alte Ratsmitglied auf seiner Seite stand, fragte Hal: »Wovon sprecht Ihr, Lamantarino? Was geschah mit meinem Vater?«
»Im ersten Jahr, als König Shanoranvilli – möge Jair ihn auf die himmlischen Felder geleiten – den Thron einnahm, kamen Boten vom westlichen Rand des Reiches, aus dem Heiligen Hain, in dem nur der König jagen darf. Es hieß, dass ein weißer Hirsch in dem Hain gefunden worden war, ein prächtiges Tier, ein Achtzehnender. Damals war Euer Vater jung. Bei Doan, damals waren wir alle jung!« Der Gott der Jagd war der Gott eines jungen Mannes, und Lamantarinos impulsiver Ausruf forderte seinen Zoll, ließ den uralten Ratsherrn nach Atem ringen. Einer seiner Ratskollegen reichte ihm einen Becher, und Wein so rot wie Blut blieb auf den Lippen des alten Mannes zurück, als er fortfuhr.
»Wir ritten im Herbst hinaus und jagten dieses Tier zwei Wochen lang. Wir erspähten ihn im Wald drei Mal, und eines Nachts sahen wir ihn auf einem kleinen Hügel stehen. Sein Geweih war enorm. Es hätte einen gewöhnlichen Hirsch niedergedrückt, aber er trug es mit Stolz. Euer Vater, Euer Majestät, verbrauchte bei dem Versuch, dieses Tier zu erlegen, drei Köcher voller Pfeile, aber letztendlich musste er in diese Stadt zurückkehren, zu dem Königreich, das ihn brauchte.«
Lamantarino schüttelte verwundert den Kopf, als habe die Jagd erst ein Jahr zuvor stattgefunden. Hal versuchte, sich seinen Vater vorzustellen, wie er hinter einem Hirsch herritt und draußen unter den Sternen schlief wie ein junger Mann. Er konnte dieses Bild nicht heraufbeschwören. Selbst in seinen frühesten Erinnerungen war Shanoranvilli ein König, der bereits vom Alter und der Last seines Königreichs erschöpft war.
»In jenem Winter, als Schnee den Hof bedeckte und das gesamte Königreich ruhte, erhielt König Shanoranvilli ein… Geschenk. Es traf auf einem Karren ein, in Grün und Gold gehüllt, also in die Farben Briantas, das westlich des Heiligen Hains liegt. Euer Vater hob das Tuch aus schwerer, golddurchwirkter Seide an und fand den Kopf des Hirsches darunter. Sein gebrochenes Geweih schimmerte, wie von frischem Schnee bedeckt, wie Diamanten in kältester Silberfassung. Die Briantaner hatten den Hirsch getötet und sein Geweih verstümmelt.«
Lamantarino atmete angesichts dieser empörenden Geschichte zitternd ein, und selbst jetzt noch, Jahrzehnte danach, murrte der Adlige darüber, dass ihr König so beleidigt worden war. »König Shanoranvilli verschwendete keine Zeit. Er vergaß, dass es Winter war. Er vergaß, dass der Boden mit Schnee bedeckt war. Er vergaß, dass er ein ruhendes Königreich unter sich hatte, ein Königreich, das seiner Planung für das Frühjahr bedurfte. Er versammelte seine getreuen Männer und hetzte mit seinen Hunden den ganzen Weg bis zur Westgrenze. Er fand die Wilddiebe und ließ sie an einem Mittwinterabend hinrichten.« Der alte Ratsherr hob die geröteten Augen, fing den Blick seines Königs über den langen Tisch hinweg ein. Lamantarinos Stimme klang fest, als er verkündete: »Euer Vater hat die Ehre seines Königreichs bewahrt, Euer Majestät. Er hat Euer Königreich bewahrt, indem er seine Jagdhunde einsetzte, um die Erinnerung an diesen edlen Hirsch zu ehren.«
Jagdhunde. Edler Hirsch.
Hal sah seinen betagten Ratsherrn an, das Kinn vor Erstaunen vorgereckt. Es war alles erfunden, eine aufwühlende Geschichte! Lamantarino rüttelte Hals treue Ratsherren bewusst auf, erinnerte sie an Shanoranvillis Ruhm und drängte sie Hals Ziel zu. Lasst sie denken, sie wären der edle Hirsch, aber behandelt sie wie die hetzenden Jagdhunde! Das hatte Lamantarino gesagt – das hatte er getan und dem unerfahrenen König damit geholfen, der geschickte Anleitung brauchte.
Hal nickte ungläubig, während Lamantarino schwer atmend zu seinem Platz zurückkehrte. Als Fabel war die Geschichte unanfechtbar. Welcher Ratsherr könnte behaupten, dass ein menschliches Leben – das Leben einer unschuldigen weiblichen Geisel – weniger wert war als das eines Hirsches? Wer könnte sich dagegen aussprechen, dass Hal seine Männer in den Norden führte, ob Winter oder nicht? »Ich danke Euch, guter Lamantarino. Man kann sich nur allzu leicht an den großen Shanoranvilli erinnern, der jahrzehntelang auf diesem Stuhl saß, und doch vergessen, dass er einst ein junger Mann war,
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