Die gläserne Gruft
Gründe.
Carola Schiller lächelte uns etwas verzagt an. »Wie ich Sie einschätze, möchten Sie gern zum Tatort?«
»Genau dorthin«, sagte Harry.
»Dann kommen Sie.«
Wieder ging die Frau vor. Wir bewegten uns auf alten historischen Pfaden, die vor langer Zeit schon mit Steinen belegt worden waren, sodass das Gehen auch einem Überschreiten und Ausweichen von Hindernissen glich. Ich kannte solche Strecken von alten Römerstraßen her, man musste wirklich Acht geben.
Uns gelang der Blick in die Gräber, die schon freigelegt worden waren.
»Die Toten haben wir rausgeholt«, erklärte Carola Schiller.
»Sie meinen die Skelette?«
»Genau, Herr Stahl.«
»Und? Sind noch alle so gewesen, dass Sie etwas mit ihnen anfangen konnten?«
»Ja, das sind sie.« Carola blieb stehen und drehte uns ihr Gesicht zu. »Wir haben bisher immer nur von Gräbern gesprochen, aber das ist nicht nur der Fall. Wir stehen hier auch in einer alten Ansiedlung, die vor Hunderten von Jahren von Handwerkern und Gewerbetreibenden bewohnt wurde. Man hat die Häuser auf den alten Friedhof gebaut. Es gab Platzmangel, denn die Menschen drängten in die Stadt hinein, weil sie sich dort sicherer fühlten. Diese alten Bauten sind noch alle vor August dem Starken gebaut worden. Wie Sie vielleicht wissen, erlebte Sachsen unter seiner Herrschaft eine Blütezeit. Die ganz große Zerstörung ist erst im Zweiten Weltkrieg erfolgt. Ansonsten gab es hier nur lokale Brände, wenn etwas dem Erdboden gleichgemacht wurde.«
Bevor wir weitergingen, hatte ich noch eine Frage. »Bitte, Frau Dr. Schiller, können Sie uns sagen, ob Sie hier Geheimgänge gefunden haben, durch die Menschen flüchten konnten?«
Sie dachte einen Moment nach. »Ja, das ist schon passiert«, gab sie dann zu. »Ich weiß von einem Luftschutzdurchgang, den die Menschen benutzt haben, um in die Bunker zu gelangen.«
»Das ist dann schon ein Fluchtweg gewesen«, sagte ich.
»Kann man so sehen.« Sie schaute uns an und lächelte. »Rechnen Sie damit, dass der Mörder auf diese Art und Weise verschwunden ist? Nein, das kann ich mir nicht vors teilen, Herr Sinclair.«
»Aber der Keller hat noch andere Ausgänge – oder?«
»Hatte. Die meisten sind zugeschüttet, wie ich weiß.« Sie hob die Schultern. »Ich denke nicht, dass wir auf diese Art und Weise weiterkommen. Die einzige Spur bisher ist der Zeuge gewesen, und mit seiner Aussage konnte man nicht viel anfangen.«
Das konnte ihr niemand streitig machen. Ich allerdings war es auch gewohnt, um die Ecke zu denken und Dinge mit ins Kalkül zu ziehen, an die andere Menschen nicht dachten, weil sie auch nie mit ihnen konfrontiert worden waren.
Wir hatten einen etwas breiteren Mittelgang erreicht. Rechts und links hatten die Archäologen die Eingänge zu Häusern freigelegt. Die alten Mauern mit ihren unregelmäßig großen Steinen standen noch, und wenn es uns das Licht erlaubte und wir hineinschauten, dann stellten wir fest, wie beengt die Leute damals gewohnt hatten. Gegenstände aus ihrem alltäglichen Leben entdeckten wir nicht. Die Wohnungen oder Häuser waren von den Archäologen leer geräumt worden.
Harry Stahl tippte der Frau auf die Schulter. »Ist dieser Pitt Sawisch denn in einem Grab umgebracht worden? Oder davor?«
»Nein, das ist wohl kein Grab gewesen. Es brach eine Wand ein.«
»Eine gläserne?«
»Ja.« Carola lächelte etwas hintersinnig. »Und ich kann mir nicht vorstellen, dass jemand in einem gläsernen Grab zur letzten Ruhe gelegt wird. Höchstens in einem gläsernen Sarg, aber der gehört dann einer Märchenfigur wie Schneewittchen.«
Auf Märchen wollten wir nicht spekulieren. Uns kam es hier auf Tatsachen an, auch wenn sie noch so schwer nachzuvollziehen waren. Dies herauszufinden, war mein Job.
Noch ein paar Schritte mussten wir gehen, dann blieben wir wieder stehen. Ich sah, wie die Archäologin Luft holte. Auf ihrem Gesicht erschien sogar eine Gänsehaut.
»Hier ist es dann geschehen«, erklärte sie mit leiser Stimme und presste dann die Lippen zusammen.
Gemeinsam schauten wir uns in der Umgebung um. Es sah aus wie an vielen Stellen auf der Anlage. In der Nähe sah ich einen Tapeziertisch, über den eine Plane gespannt war. Auf dem Tisch lagen allerlei Werkzeuge wie Spachtel, kleine Meißel, aber auch Pinsel, und es standen Schalen in der Nähe, die nicht aus der Umgebung hier stammten, sondern zur Ausrüstung der Mannschaft gehörten.
Hier war es also geschehen.
Harry und ich bückten uns und
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