Die gläserne Welt
Parkplatz fahren. Sie betrat das Lokal. Ein junger Maler aus ihrem Bekanntenkreis trat auf sie zu. »Kommen Sie, Gloria, tanzen wir!«
Er zeigte keine Verwunderung, er stellte keine lästigen Fragen. Wozu auch! Er wußte alles. Hatte er sie doch bisher in den meisten Fällen mit George zusammen gesehen. Und wo sich George befand, was dieser Halunke angestellt hatte, wußte die ganze Welt. Einige Tageszeitungen hatten sogar Abrisse seiner Gedanken gebracht, teils echte, teils solche, die gut erfunden waren.
Was Gloria suchte, war ihm nicht zweifelhaft. Sie brauchte Betäubung. Menschen in ihrem Zustand befragte man nicht.
Auch während des Tanzens sprach Mister Milton kein Wort mit ihr. Aber in vollen Zügen genoß er die Farben und den exakten Rhythmus der Jazzmelodie. Dabei schwebte ihm eine neue Zeichnung für ein Modeblatt vor.
Schon seit langem verehrte er Gloria. Aber er ließ sich's nicht merken. Auch bewunderte er sie weniger auf die plumpe Art, wie die meisten es taten. Er betrachtete sie von einem höheren Standpunkt aus, sah sie mit den Augen des Künstlers, vor dessen Begeisterung für das wahre Schöne jedes sinnliche Begehren zurücktritt. Abgesehen davon erschien ihm Gloria von vornherein unerreichbar. Daß sie, die Millionenerbin, sich zu ihm, dem armen, wenn auch begabten Graphiker, herabneigen würde – so etwas, glaubte er jedenfalls, ja, so etwas kam doch nur in Romanen vor. Wenn er auch sonst ein großer Idealist war – hier dachte er nüchtern, und deshalb beließ er Gloria auf ihrem Thron, auf dem sie für ihn schon immer gesessen hatte.
Für Gloria war sein Verhalten so, wie es ihrer augenblicklichen Stimmung entsprach. Dieser junge Mensch besaß das, was man leider so oft vermißte: ein sicheres Taktgefühl. Er mochte empfinden, daß sie innerlich irgend etwas zu verarbeiten hatte, das sie auch nur allein bewältigen konnte. Die Initiative sollte ihr überlassen bleiben. Sie konnte es sich auch nicht vorstellen, daß Milton es fertigbrächte, sie zu belauschen, selbst wenn er die Möglichkeit dazu hätte ...
Der Tanz war zu Ende. Er führte sie, immer noch schweigsam, an einen Tisch. Eine unverbindliche Frage: was sie zu trinken wünsche?
Sie bestellte sich einen Cocktail. »Warum sind Sie allein hier?« fragte sie. Er schob sein Glas hin und her, ohne sich dessen bewußt zu sein. »Ich beobachte die Menschen«, erwiderte er, »so etwas tut man am besten allein. Nirgends kann man so einsam sein, wie unter zahlreichen Leuten.«
»Aber nun störe ich Ihre Einsamkeit!«
»Nein, durchaus nicht. Denn Sie nehmen keinen Anteil an mir. Sie sind selber allein.«
»Glauben Sie? Wenn nun aber jemand an meinen Gedanken hängt? Sie wissen doch, daß dies jetzt möglich ist!?«
»Ja. Es ist schauderhaft. Es sollte verboten werden.«
»Man wird es nicht mehr verhindern können.«
»Ich verstehe: Sie leiden darunter.«
Mit diesen Worten tat er den ersten Schritt in die persönliche Sphäre. Wie einfach – und doch überzeugend wußte er sein Mitgefühl zum Ausdruck zu bringen! Das tat ihr wohl. Sie warf ihm einen dankbaren Blick zu.
Er schwieg.
Die Kapelle setzte mit einem Rumba ein. Wie auf Verabredung erhoben sie sich, schritten wiederum dem Tanzparkett zu, das, aus Glas bestehend, von unten her in verschiedenen Farben erleuchtet war.
Gloria gab sich dem Rhythmus hin. Milton summte die Melodie leise mit. Er blickte über Glorias Schulter hinweg in das Menschengewoge, er entdeckte bekannte Gesichter. Sie nickten ihm zu. Er aber tat so, als sähe er nichts. Oder sah er es wirklich nicht? Was ging vor mit ihm? War das wirklich nur eine hübsche Puppe, die er jetzt in den Armen hielt?
Nein, sie bestand aus Fleisch und Blut, so wie er. Immer deutlicher spürte er, daß seine Ruhe etwas Erzwungenes, etwas Unnatürliches war. Mit Gewalt ließ sich das Blut nicht zurückstauen. Es stieg ihm heiß in den Kopf.
Er bat seine Partnerin, den Tanz mit ihm abzubrechen, er fühle sich augenblicklich nicht wohl. Die Tatsache seiner Einsamkeit trat ihm mit doppelter Wucht ins Bewußtsein.
Gloria geleitete ihn an den Tisch. Irgend jemand hatte ihren Namen geflüstert – dann ging es von Mund zu Mund. Das Publikum wurde aufmerksam, betrachtete sie teils mit neidischen, teils spöttischen Blicken. ›Die Geliebte des Landesverräters!‹ raunten die Menschen einander zu. Georges Name fiel, sie hörte es deutlich und horchte auf. Milton, neben ihr, existierte für sie nur noch schattenhaft. Er hatte den
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