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Die Glasfresser

Titel: Die Glasfresser Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Giorgio Vasta
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auch Morana, krumm, langsam, schwankend wie ein Kamel, gegangen war. Dann war ich mit einem Finger über die einen Monat zuvor in die Oberfläche meiner Bank eingeritzte Kerbe gefahren, hatte daran gerochen, war schließlich zwischen den Bänken herumgegangen, um zu sehen, was sich auf den anderen fand. Schimpfwörter, Krakeleien, krumme Penisse, ein Gewirr von Durchstreichungen. Unterschriften, ein Gebet. Drei-gewinnnt-Spiele. Das Wort Frust, auf Mauern gelesen und hingeschrieben, ohne zu wissen, was es bedeutet.
    Boccas Bank war übersät mit großen Schnörkeln, krummlinigen Gefügen, die sich in unzähligen Bahnen überkreuzten: die grafische Projektion seiner enthusiastischen Militanz. Scarmiglias Bank dagegen war makellos und unberührt, als hätte er sie verteidigt, als müsse die physische Darstellung seines Denkens einem Leerraum entsprechen.

    Bevor ich das Klassenzimmer verließ, ging ich zum Lehrerpult, schnüffelte am abgeschabten Holz des Lehrerstuhls, berührte dann mit der Zungenspitze die Tafel und schluckte den schwarzen Geschmack des Schiefers hinunter.
    Auch wenn meine Schritte leicht waren, so dröhnten sie doch auf dem Gang. Niemand war da. Nur von draußen, von der Piazza her, war ein verdichtetes Geschrei zu vernehmen, ein Austausch von Grüßen, von Sonnenstrahlen zerschnitten. Ich ging den Gang hinunter, wandte mich nach links, und zu meiner Rechten, umrahmt von der Türöffnung, saß, allein in der Mitte des Klassenzimmers, die Arme auf der Bank verschränkt, den Kopf auf die Arme gelegt, das Haar im Rund fallend und einen schwarzen Nimbus bildend, das kreolische Mädchen.
    Ich rührte mich nicht. Aus Angst, glaube ich. Und aus Respekt. Denn jedes Mal, wenn ich sie ansehe, wird mir ganz feierlich zumute, und ich verspüre ein Bedürfnis nach Zärtlichkeit - genau jenes Bedürfnis, das der Kampf tagtäglich ausschließt.
    Ihr Kopf hob sich ganz sachte, rhythmisch, vom Atem nach oben geschoben. Ein langsam brodelnder Vulkan. Unter der Lava ihres Haars tauchten die Arme auf, das Blau einer Baumwollbluse, die dunklen Finger, die Spitze des Zeigefingers leicht gehoben. Sie blieb so, in der klaren Stille, besiegt vom Schlaf, erfüllt vom Schlaf, abgrundtief komisch, tiefernst, verwundbar, unzerstörbar.
    Da betrat ich, mit den Bewegungen eines Astronauten, das Klassenzimmer und näherte mich ihr. Ich sah den kleinen hellen Fleck auf dem Handrücken, suchte nach Rot in den Haaren. Dann beugte ich mich über sie: Ich wollte ihren Schlaf bewachen - dieses emsig-ehrlich Lebendige -, ihn hüten und aufnehmen und in ihren Duft eintauchen. Als ich einen Millimeter davon entfernt war, in ihre Atmosphäre einzudringen, verwirrt von dieser traumatischen Möglichkeit des Seins, hörte ich ein Geräusch, das vom Eingang des Klassenzimmers kam.
    Auf der Schwelle, eine Hand gegen den Türpfosten gestützt: Scarmiglia. Ruhig, die Form seines Kopfes brutal, schaute er mich an, schaute er uns an: Ich stehend, noch leicht nach vorn gebeugt,
das kreolische Mädchen ahnungslos auf der Bank schlafend; um uns herum die Unordnung der Stühle; jenseits der Fenster der formlose Fleck der Sonne.
    Er sagte nichts. Fixierte mich nur weiter, legte in diesen Blick eine wissenschaftliche, anthropologische Neugierde; da war keine Rivalität - das kreolische Mädchen ist ihm gleichgültig -, eher der Wunsch, das zeitliche Ausmaß dieser Szene bis auf den Grund zu erfassen, ihre Folgen zu erkennen, vielleicht irgendwie zu verstehen, was sie in mir bewirkte.
    Ich wandte den Blick zurück auf den Nacken des Mädchens; von draußen drang noch immer das Gezwitscher der Stimmen herein, und von irgendwoher mischte sich der zarte Duft von Jasmin in die Luft.
     
    Am Sonntagnachmittag, den 25. Juni, hält die Hitze in Palermo jeden Atem gedämpft und lässt das Herz langsamer schlagen; in Buenos Aires spielt Holland im Finale gegen Argentinien.
    Wir sitzen bei Scarmiglia vor dem Fernseher, mit Flaschen voller Sprudel und einem Ventilator. Der Schweiß malt Figuren auf unsere Köpfe, mit der Innenseite unserer Unterarme wischen wir sie weg. Wir sind für Holland, doch zurückhaltend. Von außen gesehen erkennt man es nicht, und genau das wollen wir: uns in heimlicher Anteilnahme üben, in stummer Begeisterung.
    Auf dem Spielfeld beobachte ich Daniel Passarella. Er ist ein Indio. Die Augen klein und dunkel, wie Schlitze, und eine Masse schwarzer Haare auf den Kopf gemalt, ähnelt er dem Maskottchen des Turniers, aber in groß. Bei

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