Die Glasmalerin - Walz, E: Glasmalerin
sie im Erschaffen von Untergangsszenarien Ruhe fand. Ein französischer Steinmetz, ein lombardischer Offizier, ein westfälischer Händler, ein bayerischer Pferdeknecht, Salzkocher, Bäckergesellen … Sie vergaß sie nach der Liebesnacht so schnell, wie sie sie entdeckt hatte. Keiner von ihnen berührte Antonia über das Körperliche hinaus. Und genau so wollte sie es haben. Das Wort Liebe war mit etwas Vergangenem, Verlorenem verbunden.
Sie musste niesen. Die Kälte auf dem Boden wurde unerträglich. Wie lange saß sie nun schon hier, umringt von Scherben, und dachte an früher? Eine nach der anderen nahm sie die Glasstücke in die Hand und bettete sie vorsichtig auf ein Tuch. Zwischendurch hielt sie inne und betrachtete das Malheur. Sie konnte es noch immer nicht glauben: In all den Jahren war es das erste Mal, dass sie Glas hatte fallen lassen, Glas, das der Stoff war für die Bilder ihrer Vorstellungswelt. Und ausgerechnet in jenem Augenblick war Matthias gekommen, der Mann – der einzige Mann -, den sie sich in ihr Leben zurückgewünscht hatte.
Ein notdürftig gefalteter Brief glitt durch den Türschlitz, der sonst nur kalte Luft hereinließ. Sie bückte sich danach. Matthias’ Handschrift hatte sich seit seiner Jugend kaum verändert.
»Du hast gefragt, ob ich verheiratet bin. Ich bin dir die Antwort schuldig geblieben: Nein, das bin ich nicht. Aber ich war es. Meine Frau starb im letzten Jahr bei der sechsten Totgeburt eines Knaben. Wenn wir uns morgen treffen, sprich bitte nicht davon.
Ich habe sehr oft an dich gedacht und freue mich, dass wir uns nach so langer Zeit wieder begegnet sind.«
Als sie die Tür öffnete, war niemand zu sehen.
5
Während Sandro mit Luis auf dem Weg zum Medicus war, gingen ihm die Worte von Oreste Lippi nicht mehr aus dem Kopf: »Ich glaubte, Ihr führt die Untersuchung.« Jeder glaubte das, der Fürstbischof, der Papst, jeder. Doch sie alle irrten sich. Er führte die Untersuchung nicht, sondern er wohnte ihr bei, so wie er den Redeschlachten und Disputen, die Luis führte, stets beiwohnte. Eigentlich war das genau das gewesen, was er wollte, aber jetzt, wo es so gekommen war, hatte er das Gefühl, irgendetwas daran sei nicht richtig. Als sie in die Via Urbano einbogen, sagte er sich, er solle froh über Luis’ Führung sein, aber etwas in ihm versuchte, ihn vom Gegenteil zu überzeugen. Und als Luis und er die Via Urbano verließen und die Via Baltasar entlangliefen, dachte er einerseits, er solle sich mehr anstrengen, andererseits meinte er, alles sei in Ordnung, so wie es derzeit laufe.
»Wieso«, fragte er, »hat der Fürstbischof mich und nicht dich ernannt?«
Sie gingen über eine kleine Piazza, die von Bürgerhäusern mit hohen, gepflegten Fassaden und weit geöffneten Fensterläden umgeben war. Hier und da blickten alte Frauen aus den Fenstern, wie sie es wohl jeden Abend zu dieser Stunde taten. Manche von ihnen sprachen über die ganze Piazza hinweg miteinander, verstummten dann, um plötzlich wieder in einen Redeschwall zu verfallen oder laut zu lachen. Die Szenerie hätte Sandro an seine Jugend in Rom erinnern können, doch er war viel zu angespannt für Nostalgie.
»Ich habe dich empfohlen«, antwortete Luis.
»Wieso?«
»Der Fürstbischof wollte einen Jesuiten.«
»Man hätte nach einem Jesuiten in Verona oder Padua schicken können. Das liegt zu Pferd nur wenige Stunden entfernt.«
»Wozu jemanden aus Padua holen, wenn es in Trient einen Kandidaten gibt?«
»Du hättest die Untersuchung selbst übernehmen können.«
»Ich bin zu beschäftigt für so etwas.«
»Momentan nicht.«
Luis ging nicht weiter darauf ein. Er beschleunigte seinen Schritt, so als wolle er vor etwas davonlaufen. Sandro folgte ihm eine Weile, und während er das tat, drehte sich auch das Rad seiner Gedanken schneller und schneller, bis er schließlich stehen blieb und rief: »Halt, Luis, so geht das nicht.«
»Bin ich dir zu schnell?«
»Gewissermaßen, ja. Aber ich meine damit nicht unseren Fußmarsch.«
Luis, der ein Stück voraus war, kam wieder zurück, und Sandro sah ihm an, dass er wusste, was er ihm gleich sagen würde. Das machte es ihm leichter.
»Verstehe mich nicht falsch, Luis. Als du mir vorhin deine Unterstützung angeboten hast, war ich dankbar, sehr dankbar sogar. Aber ich dachte … Nun, ich glaubte, wir führen die Untersuchung gemeinsam .«
»Das tun wir doch.«
»Leider nicht. Ich kam mir bei Lippi ziemlich dumm vor, gar nichts zu sagen und nur
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