Die Glasmalerin - Walz, E: Glasmalerin
Sandro verlor ein Stück der Mutter, ein Stück seiner Exklusivität und ein großes Stück des Bildes von sich selbst. Plötzlich hatte er einen Halbbruder, Blut von seinem Blut, der energisch und furchtlos war und mit dem er sich gezwungenermaßen vergleichen musste. Die Prügelei in der Kapelle war nur der äußere Ausdruck eines Kampfes, der sich zwischen den Brüdern eigentlich auf einer anderen Ebene abspielte: in Gesten und Blicken und in unausgesprochenen Worten. Als Sandro geschlagen auf dem Boden der Kapelle lag, war die Art und Weise, mit der Matthias wortlos auf ihn herabblickte – neben ihm die gemeinsame Mutter -, die schlimmste Demütigung seines Lebens.
Danach war er nicht mehr Herr seiner selbst. Seine Gedanken kreisten um nichts anderes mehr, als wie er sich rächen könnte – oder besser, wie er die Achtung seiner Mutter zurückgewinnen könnte, denn er bildete sich ein, sie verloren zu haben. Er wünschte sich, alles wäre wie früher, bevor Matthias gekommen war.
Eigentlich war es nicht seine Idee, Matthias zu töten, sondern die eine Freundes. Einige von ihnen, so stellte sich heraus, hatten schon einmal einen Menschen getötet, und Sandro stimmte, nachdem er eine Nacht lang sein Herz der Dunkelheit geöffnet hatte, der Idee zu. Sie schien ihm die natürliche Lösung des Problems zu sein. Fünf Freunde, fünf Messerstiche. Als er die Waffe in die Hand nahm, an einem Strohsack ausprobierte und dabei an Matthias dachte, packte ihn ein Gefühl von Macht, von dem er bis dahin nicht gewusst hatte, dass es in ihm steckte. Er war so berauscht, als hätte er drei Krüge voll Wein ausgetrunken.
Doch in dem Moment, als der erste Freund zustach und das Blut aus Matthias’ Körper schoss, erwachte eine Stimme in Sandro und hielt ihn davon ab, einen tödlichen Stoß zu führen. Niemand sah in dem Trubel und dem Blut, dass Sandro dem Halbbruder nur in den Arm stach – die ungefährlichste der fünf Wunden.
Welche Stimme war es? Die des Gewissens, des Guten in ihm? Oder doch nur wieder die des ewigen Feiglings?
Elisa erf uhr schnell von dem Anschlag; in Rom galten Geheimnisse als Süßstoff des Lebens und hielten sich so lange wie Zucker in einem Sieb. Sie erlitt einen Schwächeanfall, man musste den Arzt rufen. Noch während er sie behandelte, ließ sie Sandro zu sich rufen. Als er eintrat, richtete sie sich gegen den Willen des Mediziners halb im Bett auf und fragte: »Ist das wahr?«
In Rom gab es jeden Tag Überfälle. Elisa konnte die Wahrheit nicht wissen, nur ahnen. Hätte er sie angelogen – sein Leben wäre vermutlich in völlig anderen Bahnen verlaufen.
Stattdessen sagte er: »Ja.« Er liebte sie zu sehr, um sie anzulügen.
Da gab sie ihm eine Ohrfeige, so fest, dass seine Wange augenblicklich taub wurde. Es war die erste Ohrfeige, die er je von ihr bekommen hatte.
»Bete«, sagte sie, und dann schwieg sie.
Am nächsten Tag ging sie wieder in die Kapelle, in – wie es Sandro schien – noch weiteren und noch schwärzeren Gewändern als zuvor. Sie betete fast nur noch, siebenmal täglich.
Und er? Er betete ebenfalls, weniger für die Gesundung seines Halbbruders als für sich selbst, für sein eigenes Heil, das unerreichbar war. Falls Matthias sterben sollte, hätte Sandro ein Leben auf dem Gewissen und die Liebe seiner Mutter verloren. Sollte der Halbbruder überleben und die Täter nennen, drohten Sandro Kerkerhaft oder der Henker. Wochenlang legte sich das Schweigen wie ein Teppich auf das Haus der Carissimis.
Eines Nachts kam Elisa in Sandros Zimmer. Sie setzte sich auf die Bettkante, wie sie es, als er noch ein Junge gewesen war, oft getan hatte, und sprach in die Finsternis hinein. Sie wusste, dass er wach war und jedes Wort hörte.
»Du hast das schlimmste aller Verbrechen begangen, das Verbrechen Kains, und nur Gott ist es zu danken, dass du nicht erfolgreich warst. Das ist ein Zeichen, das Zeichen für dich, dein Leben Gott zu weihen und für immer in einen Orden einzutreten. Allein dort kann deine Seele noch gerettet werden, und auch nur, wenn du alle Gelübde stets befolgst. Tu es, Sandro. Es ist mein ausdrücklicher Wunsch. Mein – mein letzter Wunsch an dich.«
Sie neigte sich ihm zu, küsste ihn auf beide Wangen und – wie zum Abschied – auf die Stirn. Eine Träne fiel auf ihn.
»Gott helfe dir«, sagte sie und verschwand.
Am nächsten Morgen – Elisa hatte sich wegen Unpässlichkeit entschuldigen lassen – verkündete er seinen Schwestern beim Frühstück,
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