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Die Glut

Die Glut

Titel: Die Glut Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sándor Márai
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es nicht anders sagen. Offenbar hatte ich noch etwas zu erledigen«, sagt er nachdenklich. »Um mich herum starben die Menschen, ich habe alle Varianten des Todes gesehen, und manchmal staunte ich über die Vielfalt der Sterbemöglichkeiten; denn auch der Tod hat seine Phantasie, so wie das Leben. Zehn Millionen Menschen sind im Krieg gestorben, nach offizieller Zählung. Ein Weltenbrand war ausgebrochen und hat so sehr gelodert und gewütet, dass man zuweilen glauben mochte, alle persönlichen Zweifel, Fragen und Regungen würden mit verbrennen ... Doch das war nicht so. Noch inmitten der größten menschlichen Not wusste ich, dass mir etwas Privates zu erledigen blieb, und deshalb war ich weder feige noch mutig, wie es das Lesebuch beschreibt; nein, ich war ruhig, beim Sturm wie beim Kampf, denn ich wusste, dass mir nichts Schlimmes passieren konnte. Und eines Tages bin ich aus dem Krieg nach Hause gekommen, und dann habe ich gewartet. Die Zeit verging, wieder hat sich die Welt entzündet, und ich bin sicher, dass es noch derselbe Brand ist, der wieder aufflackert ... Und in meiner Seele glühte die Frage, die vom Ruß und von der Asche der Zeit und der Kriege nicht verdeckt werden konnte. Wieder sterben die Menschen zu Millionen, und doch hast du in dieser verrückt gewordenen Welt den Weg gefunden, den Weg vom anderen Ufer, um nach Hause zu kommen und mit mir alles zu erledigen, was wir vor einundvierzig Jahren nicht erledigen konnten. So stark ist die menschliche Natur: Sie kann nicht anders, sie muß auf die Frage, die sie als ihre Lebensfrage erkannt hat, eine Antwort geben oder erhalten. Deshalb bist du zurückgekommen, und deshalb habe ich auf dich gewartet. Vielleicht ist diese Welt am Ende«, sagte er leise und beschreibt mit der Hand einen Bogen. »Vielleicht gehen in der Welt die Lichter aus, so wie heute über dieser Gegend, in der Folge eines elementaren Ereignisses, das nicht der Krieg allein ist, sondern mehr; vielleicht ist auf der ganzen Welt auch in den Seelen der Menschen etwas herangereift, und jetzt wird mit Eisen und Feuer besprochen und erledigt, was einmal besprochen und erledigt werden muß. Dafür gibt es viele Anzeichen. Vielleicht ...«, sagt er sachlich, »vielleicht gehört diese Lebensform, die wir kennen, in die wir hineingeboren wurden, dieses Haus, dieses Essen, ja, auch die Wörter, mit denen wir heute Abend die Fragen unseres Lebens besprochen haben, vielleicht gehört das alles der Vergangenheit an. In den Herzen der Menschen ist zu viel Spannung, zu viel Unwillen, zu viel Rachsucht. Wir schauen in unsere Herzen, und was finden wir darin? Unwillen, den die Zeit höchstens gedämpft hat, der aber weiterschwelt. Warum sollten wir dann von der Welt, von den Menschen etwas anderes erwarten? Und wir beide, alt und weise, am Ende unseres Lebens, auch wir wollen Rache ... Rache an wem? Aneinander oder am Gedenken eines Menschen, der nicht mehr ist. Sinnlose Regung. Und doch lebt sie in unseren Herzen. Warum sollen wir dann von der Welt etwas anderes erwarten, in der es von unbewussten Sehnsüchten, von willkürlichen Affekten wimmelt, in der junge Männer jungen Männern anderer Nationen mit dem Bajonett die Finger spitzen, in der fremde Menschen einander Riemen aus dem Rücken schneiden, in der alle Regeln, alle Konventionen ungültig geworden sind und nur noch die Triebe herrschen und lodern, bis zum Himmel ... Ja, die Rache. Ich bin aus dem Krieg, in dem ich hätte sterben können und doch nicht gestorben bin, heimgekehrt, weil ich auf die Gelegenheit zur Rache wartete. Wie? fragst du wohl. Was für eine Rache? ... Ich sehe an deinem Blick, dass du dieses Bedürfnis nach Rache nicht verstehst. Was für eine Rache ist noch möglich zwischen zwei alten Menschen, auf die schon der Tod wartet? ... Alle sind tot, was soll da die Rache noch? ... Das fragt dein Blick. Und ich will dir antworten: ja, doch, die Rache. Dafür habe ich in Frieden und Krieg, in den letzten einundvierzig Jahren gelebt, deswegen habe ich mich, deswegen haben mich andere nicht umgebracht, und deswegen habe ich niemanden getötet, dem Himmel sei Dank. Nein, der Moment der Rache ist gekommen, so wie ich mir das wünschte. Die Rache besteht darin, dass du zu mir gekommen bist, durch die Welt, durch den Krieg, über minenverseuchte Meere, hierher, an den Tatort, um zu antworten, um mit mir zusammen die Wahrheit zu erfahren. Das ist die Rache. Und jetzt sollst du antworten.«
    Die letzten Wörter sagt er ganz leise.

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