Die große Flut
zögerte. Er hatte seine Zweifel, doch was Tiglah und Mahlah anboten, versprach Spaß zu machen. Es war wirklich an der Zeit, etwas anderes kennenzulernen als Großvater Lamechs Garten und den Marktplatz. »Nun ja...« sagte er.
»Geh du meinetwegen mit.« Dennys blieb fest. »Ich wäre schon einmal beinahe am Hitzschlag gestorben.«
Sandy schüttelte den Kopf. »Nein. Großvater Lamech braucht Zwiebeln, und die sollten wir aus dem Garten holen, ehe es zu spät wird.«
Flügel flatterten, die Luft vibrierte, der Greif landete zwischen den beiden Jungen und Mahlah und Tiglah.
»Verschwinde, du Störenfried!« Tiglah trat nach ihm. Ihre grünen Augen funkelten böse.
Dennys prallte erschrocken zurück. Dieses Untier sah nicht weniger gefährlich aus als das Mantichora.
»Keine Angst«, beruhigte ihn Sandy. »Das ist der Greif. Er ist eine Sie und Alarids Freundin.«
Der Greif breitete die Adlerflügel aus, so daß sie die beiden Mädchen abschirmten, und krächzte etwas, das wie »Zwiii-bel« klang.
»Schon gut, schon gut«, sagte Sandy. »Wir holen sie ja gleich.«
Der Greif legte die Flügel wieder an, peitschte mit dem Löwenschwanz den Sand auf.
Tiglah ging in sicherer Distanz um ihn herum und legte ihre Hand auf Sandys Arm. »Kommst du? Wenn nicht jetzt, dann ein wenig später? Du möchtest doch Spazierengehen? Ich werde dich auch nicht mehr verwechseln. Mittlerweile kann ich euch auseinanderhalten.« Ihre Fingerspitzen streichelten zärtlich seinen Arm. »Ihr seid beide groß und stark. Und ihr habt beide Sommersprossen um die Nase. Aber deine Haut ist heil und glatt.« Sie wies mit dem Kinn auf Dennys. »Er aber sieht noch immer aus wie ein Stück rohes Fleisch.«
»Trotzdem ist er hübsch«, schnurrte Mahlah, die sich ebenfalls am Greif vorbeigedrängt hatte. »Niemand sonst in der Oase ist so groß und göttergleich wie ihr.«
»Zwiii-bel!« mahnte der Greif.
Sandy wollte schon zum Garten gehen, da bemerkte er, daß Dennys stehengeblieben war und auf den Weg spähte, der hinter den Bäumen verlief. Yalith und O-holi-bamah schleppten zu zweit einen großen Topf an.
Mahlahs Lächeln erstarrte zur Grimasse. »Ah, meine lieben Schwestern! Habt ihr es etwa auf die Riesen abgesehen?«
O-holi-bamahs Stimme klang freundlich, wie immer. »Guten Morgen. Matred schickt uns mit dem Essen. Großvater Lamech ist zu alt, um für drei zu kochen.«
Yalith starrte abwechselnd auf Sandy und Dennys. »Ihr unterscheidet euch nicht bloß durch die Hautfarbe«, sagte sie verwirrt.
»Stellen wir den Topf aufs Feuer«, drängte O-holi-bamah Yalith zum Gehen.
»Lauft ihnen doch nicht gleich nach!« Tiglah rümpfte angewidert die Nase.
»Plaudern wir noch ein wenig«, lockte Mahlah.
Aber die beiden Jungen hatten ihnen bereits den Rücken zugewandt und verschwanden im Zelt.
Der Greif kreischte vergnügt, erhob sich in die Luft und schraubte sich in großen Kreisen höher und immer höher in den Himmel.
Jeden Tag brachte jemand aus Noahs Familie die Hauptmahlzeit zu Großvater Lamechs Zelt. Eines Morgens waren wieder Anah und Elisheba an der Reihe.
Anah, Hams Gemahlin, glich ein wenig ihrer Schwester Tiglah, obwohl ihr Haar nicht so feuerrot war und ihre Augen nicht so grün funkelten. Auch wirkte sie schlaffer, hatte überall Grübchen, auf den Wangen, am Kinn, auf den Ellbogen und an den Knien. Und nicht zuletzt war sie sanftmütiger als Tiglah.
Elisheba wiederum war Sem ähnlich: handfest, von kräftigem Muskelbau, auf solide Weise freundlich. Man konnte sie sich gut vorstellen, wie sie, zu einer anderen Zeit und an einem anderen Ort, im geblümten Hauskleid den Boden schrubbte und peinlich darauf achtete, nichts unter den Teppich zu kehren.
Anah stellte den Topf aufs Feuer, stemmte die Hände in die breiten Hüften und betrachtete die Zwillinge mit unverhohlener Bewunderung. »In hundert Jahren werdet ihr die strammsten Männer in der ganzen Wüste sein.«
Dennys schielte zu Großvater Lamech hinüber. Ihm waren keine hundert Jahre mehr gegeben. Und auch Sandy und er würden nicht so lange leben. Aber das sagte er nicht laut. Er mochte Anah nicht. Sie war Tiglahs Schwester.
Elisheba hob den leeren Topf vom Vortag auf. Die Zwillinge hatten ihn mit Sand gesäubert. »Ob ihnen jemals Flügel wachsen werden?« fragte sie. Sie sprach von den beiden oft so, als seien sie gar nicht da oder könnten sie nicht hören.
»Ich glaube, sie sind etwas Neues«, sagte Anah. »Weder Seraphim noch Nephilim, sondern eine neue
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