Die guten Frauen von Christianssund: Sommerdahls erster Fall (German Edition)
Bauch dicker wurde, und er hat sie ein paar Wochen später wiederkommen sehen – ohne Kind.«
»Sie hatte versprochen zu schweigen.«
Dan spürte, dass er ebenfalls wütend wurde. Regte sie sich wirklich darüber auf, was Lilliana möglicherweise vor über einem Jahr getan hatte? »Beschäftigt Sie das jetzt tatsächlich am meisten? Es interessiert Sie doch nicht wirklich nur, wie Sie verbergen können, dass Sie damals einen Fehler gemacht haben, einen Fehler, der Lillianas Kind das Leben gekostet hat.« Er sah ihr direkt ins Gesicht. »Das erklärt eigentlich gut den weiteren Verlauf. Sie hatten so große Angst, wegen eines Kunstfehlers belangt zu werden, dass Sie die Erpressung akzeptiert haben und weiterhin für das Netzwerk arbeiteten. Es war nicht die Sorge für die ›armen, missbrauchten Frauen‹, wie Sie es ausdrücken, die Sie weitermachen ließ. Es war Ihre eigene Angst, entdeckt zu werden.«
Ihre rechte Hand umklammerte die Armlehne des Gittersofas so fest, dass die Knöchel sich gegen den karierten Bezug weiß absetzten. Sie glich einer zu hart gespannten Feder. In diesem Moment hörten sie jemanden zur Haustür hereinkommen. Regitze sprang auf, Dan erhob sich ebenfalls. »Warten Sie«, sagte er leise und streckte die Hand nach ihr aus.
Sie blieben stehen, als sie die Stimme einer jungen Frau auf dem Flur hörten: »Ich habe gesehen, dass du angerufen hast, Mama, aber ich habe Tobias gerade im Kindersitz angeschnallt, und dann dachte ich, dass …« Sie brach abrupt ab, als sie die beiden ernsten Gesichter sah.
»Dan, das ist meine Tochter Nanna und ihr Sohn Tobias. Und Nanna, das ist Dan Sommerdahl, der Ehemann einer Kollegin im Ärztehaus.« Ihre Stimme war ruhig, als sie formvollendet die Routine abspulte und tat, was sie bestimmt schon tausend Mal getan hatte. Sie stellte zwei Menschen einander vor. Oder besser: drei Menschen. Auf dem Arm der jungen Frau saß ein kleiner, blasser, gut ein Jahr alter Junge. Seine Haut war fast weiß, das Haar lag dunkel und glatt über dem Kopf. Die Augen, die den fremden Mann im Wohnzimmer seiner Großmutter ansahen, waren so dunkelbraun, dass sie beinahe schon violett wirkten. Dan blickte den kleinen Jungen entgeistert an, dann drehte er seinen Kopf langsam Regitze zu. Aus ihrem Gesicht war der letzte Rest Farbe gewichen, ihr Blick war starr.
»Lillianas Kind ist nicht gestorben«, konstatierte Dan tonlos. »Sie durften den Jungen mitnehmen, wenn Sie im Gegenzug Ärztin für Chick Support werden, nicht wahr?«
Regitze richtete den Blick auf ihre Tochter, und Nannas Augen füllten sich mit Tränen. Regitze wandte sich an Dan. »Sie sagen nichts, oder?« Dans Augen hingen noch immer an dem kleinen Jungen, der nun zappelte, auf den Boden und zu seiner Oma wollte. Sie ging in die Hocke und breitete die Arme aus, und er stapfte unsicher die kurze Strecke in ihre Arme. Mit ihrem Enkel im Arm richtete sie ihren Blick wieder auf Dan und wiederholte ihre Bitte: »Sie sagen doch nichts, oder?«
Als Flemming den Inhalt der DVD überflogen hatte, rief er Pia Waage an. »Bist du noch bei Jo? Gut, dann bring sie noch einmal her. Ich habe eine Aufgabe für sie. Sie muss etwas übersetzen.«
Er ging den Flur entlang und steckte den Kopf in die Büros, an denen er vorbeikam. »In fünf Minuten treffen wir uns zu einer Besprechung. Bringt euren eigenen Kaffee mit, heute wird nichts serviert.«
Als Pia und Jo erschienen, erklärte er ihnen rasch die Situation. »Du sollst niemanden verraten, der euch hilft, Jo. Du sollst uns nur sagen, was Sally in diesen kurzen Filmen sagt. Okay?«
Jo nickte, aber man hätte vermutlich darüber diskutieren können, ob sie begriff, was um sie herum vorging. Sie riss ihre Augen so weit auf, dass es aussah, als könnten ihre Augäpfel jeden Moment herauskullern.
»Jo hat letzte Nacht kaum geschlafen, Torp«, erklärte Pia Waage. »Sie hat panische Angst, dass Johnny Evil sie eventuell erwischt. Und als sie vorhin auch noch das Foto gesehen hat – du kannst dir nicht vorstellen, wie schwer es war, ihr klarzumachen, dass es ein altes Foto ist, das nicht erst kürzlich hier in Christianssund aufgenommen wurde. Immer wieder sagt sie, sie bräuchte ein paar Pillen von ihrer Ärztin, ihren Namen kennt sie aber nicht, und die Telefonnummer liegt in ihrer Wohnung, in die sie sich nicht wagt. Das macht es alles nicht leichter.«
»Was für Pillen braucht sie denn?«
»Etwas Angstdämpfendes, soweit ich es verstanden habe.«
»Augenblick.«
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