Die guten Frauen von Christianssund: Sommerdahls erster Fall (German Edition)
heulen, wenn jemand gestorben ist?«
Flemming zog eine Augenbraue hoch. »Wenn das wahr ist, hat sie den Test für gute Erziehung heute bestanden.«
Pia drückte den Fahrstuhlknopf, und ein paar Minuten später saß sie zusammen mit Jo an einem Tisch in Jannes Kaffeebar. Die Krankenpfleger hatten erleichtert aufgestöhnt, als sie gehen durften, und Flemming stand nun mit einem Tablett an der Kasse. Er hatte Kaffee und süße Stückchen für alle gekauft, und als er das Tablett auf dem Resopaltisch absetzte, hörte Jos durchdringendes Wimmern wie durch einen Zauberschlag auf. Sie biss sofort in eines der Stückchen und sah recht zufrieden aus, als sie kaute.
»War es Sally?«, wollte Flemming wissen. Er redete nicht gern Englisch, stotterte deshalb und fühlte sich unbeholfen. Gut. Er musste sich überwinden und drückte den Rücken durch. »War das deine Freundin Sally?«
Jo nickte mit vollem Mund.
»Aber ihren Nachnamen kennst du nicht?«
Diesmal schüttelte sie ihren Kopf. Sie stopfte den letzten Bissen in den Mund und warf einen sehnsüchtigen Blick auf die beiden anderen Stücke.
»Möchtest du etwas Richtiges essen, Jo? Hast du Hunger?« Pia sprach fließend Englisch, mit einem leicht amerikanischen Akzent.
»Ja, danke«, sagte Jo.
»Very hungry.«
Pia ging zur Theke. Flemming hatte das seltsame Gefühl des Ausgesetztseins, als er allein mit dem jungen Mädchen zurückblieb. Er hatte ihr bisher nicht direkt in die Augen blicken können, obwohl es nicht so aussah, als würde sie einem Augenkontakt mit Pia Waage ausweichen. Vielleicht war das ja auch »was Kulturelles«, wie Waage es ausgedrückt hätte.
Er sah ein, dass nichts Vernünftiges aus Jo herauszubringen sein würde, bevor sie nicht satt war. Flemming zündete sich eine Zigarette an und nippte an dem lauwarmen Maschinenkaffee, während Pia ihre Notizen ordnete und Jo wie ein Scheunendrescher aß. Ein großes Sandwich mit Huhn, eine Schale schlappen Salat mit gräulichen Croûtons, ein Käsebrot mit der verwischten Spur eines Paprikastreifens sowie eine kleine Plastikschale mit Mandelreis und Kirschsoße. Dazu trank sie ein Glas Milch, zwei Tassen Kaffee und ein Glas Saft. Schließlich schob sie die leeren Teller zur Seite, nahm sich eine von Flemmings Zigaretten aus der Packung, die er auf dem Tisch hatte liegen lassen, als sei es das Selbstverständlichste von der Welt, und zündete sie sich mit seinem Feuerzeug an. Sie bedankte sich auf Dänisch für das Essen. Pia lächelte ihr zu.
»Kannst du jetzt unsere Fragen beantworten?«, erkundigte sich Flemming.
»Ja.«
»Wie lange wohnst du schon in der Jernbanegade?«
»Zehn Monate.«
»Und wo hast du vorher gewohnt?« Noch bevor er die Frage zu Ende formuliert hatte, wusste er, dass er es langsamer hätte angehen sollen. Jo presste die Lippen aufeinander und schüttelte den Kopf.
»Wer hat dir die Haare gemacht?«, erkundigte sich Pia beiläufig, als hätte sie die Plumpheit ihres Chefs nicht bemerkt.
Flemming lehnte sich mit einer neuen Zigarette zurück. Offenbar war heute nicht sein Tag. Er betrachtete die beiden Frauen. Die eine groß, elegant und mahagonibraun, mit winzigen Rastalocken, die sich in einem feinen karierten Muster über die gesamte Kopfhaut zogen. In ihren dunklen Augen sah das Weiße aus wie saure Milch. Darüber straffe, glatte, glänzende Lider, als hätte Jo sie mit Vaseline eingecremt. Die andere Frau war fast einen Kopf kleiner, ihre helle Haut voller Sommersprossen sah gesund und geschmeidig aus. Das dunkle Haar saß wie ein blanker Helm um den runden Kopf Pia Waages, und ihre denimblauen Augen waren lebhaft wie die eines Eichhörnchens. Ein größerer Unterschied als Jo und Pia war kaum vorstellbar, aber sie hatten zueinandergefunden, allein durch die Zugehörigkeit zum selben Geschlecht. Ging es Männern ebenso, oder war es Frauen vorbehalten, diese Gemeinschaft über Länder, Religionen und Kulturen hinweg zu empfinden?
Jo erzählte, dass Sally sie frisiert hatte, wenige Tage bevor sie verschwand. »Und ich habe Sallys Frisur geflochten.«
Die Unterhaltung quälte sich weiter durch die zahlreichen Fluchten und Buchten des Smalltalks. Flemming rutschte unruhig hin und her, aber es gab keinen Zweifel, diese langsame Herangehensweise hatte weit größeren Erfolg als seine eher direkte Methode. Als Pia Waage sich endlich an die eigentlichen Fragen herantastete, war Jo bereit zu antworten. Sie hatte früher im
sex trade
gearbeitet, wie sie es ausdrückte, aber sie
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