Die guten Frauen von Christianssund: Sommerdahls erster Fall (German Edition)
irgendjemand herausgefunden und versucht, sie zu erpressen? Vielleicht hat Sally ihren alten Zuhälter um Hilfe gebeten, zu dem sie offenbar ein ziemlich gutes Verhältnis hatte. Vielleicht hat der Zuhälter auch herausgefunden, dass Sally irgendetwas verraten hat. Wenn es jemanden gab, der genug über ihre Vergangenheit wusste, um sie zu erpressen, dann … Vielleicht ist er so böse geworden, dass er sie totgeprügelt hat?«
»Wie viel weißt du eigentlich über die beiden Frauen?«, unterbrach ihn der Hauptkommissar. »Ist das alles nicht ein Hirngespinst?«
»Ich habe eine Zeugin.«
»An dem Mord?«
»Nein. Eine Leumundszeugin. Eine Frau, die beide Opfer gut kannte und mir von ihnen erzählt hat.« Flemming holte tief Luft und referierte Jos Aussage. Wie sie und Sally nach Dänemark gelockt worden waren, die eine, um Fotomodell zu werden, die andere, um eine Friseurlehre zu beginnen. Wie beide bereits am ersten Tag vergewaltigt, tagelang eingesperrt und immer wieder vergewaltigt wurden, bis ihr Widerstand schließlich gebrochen war und sie nur noch taten, was ihnen befohlen wurde. Wie man sie danach in jütländischen Städten von Bordell zu Bordell schickte, einen Monat waren sie in Herning, einen in Thisted, einen Monat in Tilst, einer Vorstadt von Århus. Das komplizierte Turnussystem sollte sicherstellen, dass es stets »Frischfleisch« für die Freier gab, gleichzeitig hinderte es die Mädchen daran, allzu enge Freundschaften untereinander zu schließen. Je einsamer man ist, desto leichter lässt man sich brechen.
»Das habe ich schon mal gehört«, brummte Kjeld Hanegaard. Er sah aus, als sei ihm nicht wohl, und genauso unwohl hatte sich Flemming gefühlt, als Jo ihm am Nachmittag ihre Geschichte erzählt hatte.
»Ich auch«, sagte er. »Leider ist es eine ziemlich gewöhnliche Geschichte. Und die Mädchen sitzen in der Zwickmühle. Wenn sie zur Polizei gehen, bekommen sie zunächst eine Menge Hilfe und Unterstützung. Sie können unter einer Deckadresse untergebracht werden, damit die Zuhälter und ihre Gorillas nicht mehr an sie herankommen. Der dänische Staat hat sogar eine Sonderregelung eingeführt: Die Opfer von Frauenhandel werden nicht innerhalb von vierzehn Tagen abgeschoben, sondern können ganze hundert Tage im Land bleiben. Auf diese Weise bekommen wir ihre Zeugenaussagen, bevor wir sie nach Hause schicken, sagt der Justizminister. Ist das nicht schön? Für die Opfer ist es doch angenehm, sich noch ein paar Monate erholen zu dürfen, bevor sie heimgeschickt werden, könnte man hinzufügen. Denn die meisten werden bereits am Flughafen von einem Repräsentanten ihrer ›Besitzer‹ in Empfang genommen.« Flemming deutete die Anführungszeichen mit gekrümmten Fingern an. »Dann werden sie nach Strich und Faden verprügelt und mit dem nächsten Flieger wieder zurückgeschickt. Mit neuen falschen Papieren und der Aussicht auf eine weitere Reise in die Hölle.« Er hielt inne, vollkommen außer Atem vor Wut. Sein Puls brauste in den Ohren. »Entschuldige«, sagte er und schüttelte den Kopf. »Ich bin nur so frustriert über diese Praxis. Die ganze Zeit, immer wieder. Und wir können einen Scheiß dagegen unternehmen.«
Auch der Hauptkommissar schüttelte den Kopf.
»Aber in diesem Fall ist es offenbar so gewesen, dass Sally und Jo sich trotz aller Sicherheitsmaßnahmen häufig gesehen haben und Freundinnen wurden. Das konnte nicht einmal der Bordellbetreiber verhindern. Johnny Evil wird er von Jo genannt. Er hat seinen Namen anscheinend verdient, der reinste Satansbraten, behauptet sie. Die systematischen Vergewaltigungen und Bestrafungen hat vor allem er vorgenommen, und soweit Jo weiß, sucht er auch nach den Mädchen, die abgehauen sind, und sorgt dafür, dass sie es nicht wieder tun. Jo ist ein großer Fan von Sally, ihrer Ansicht nach war sie die Antwort der Sexbranche auf Pippi Langstrumpf. Egal, was Johnny und die eher perversen Kunden mit ihr gemacht haben, sie blieb stolz und hart. Sie hat sich nicht untergeordnet, sagt Jo. Es scheint tatsächlich etwas dran zu sein, dass Sally etwas Besonderes war. Sie traf sogar eine Vereinbarung mit Johnny Evil und einem Burschen namens Curt Loos. Sie sollte ein Gebäude in Aalborg anzünden und durfte als Gegenleistung gehen. Ich habe es von den Kollegen in Aalborg überprüfen lassen, es stimmt: Vor gut zwei Jahren gab es einen gewaltigen Brand in einer Lagerhalle am Hafen. Man geht davon aus, dass es sich um Brandstiftung handelte, aber die
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