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Die Haarteppichknüpfer - Roman

Die Haarteppichknüpfer - Roman

Titel: Die Haarteppichknüpfer - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Bastei Lübbe
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Frühmorgennebel hing zwischen geduckten Giebeln, mischte sich mit kaltem Rauch aus Kaminen, in denen im Lauf der Nacht die Feuer erloschen waren, und als die ersten Sonnenstrahlen über die Firstspitzen der kleinen, schiefen Häuser kitzelten, erschien alles in ein unangemessen verträumtes, zart-dunstiges Licht getaucht. In einigen dunklen Ecken lagen, wie kleine Erdhügel, schlafende Bettler auf dem blanken Boden, bis über den Kopf in zerlumpte Decken gehüllt. Ein paar kleine Nager krabbelten benommen durch die Abfälle, satt genug, um die Schlafenden gnädig zu umrunden, und einige von ihnen wagten sich schnuppernd vor bis zu der schmalen Wasserrinne, die in der Mitte der Gasse träge vor sich hin murmelte.
    Sie stoben entsetzt beiseite und schossen zurück in ihre Löcher wie an Fäden gezogen, als eine verhüllte Gestalt raschen Schrittes daherkam, keuchend, stolpernd, von Schatten zu Schatten huschend, und schließlich auf das Haus des Flötenmeisters Opur zueilte. Dann hörte man zwei dumpfe Schläge des Türklopfers.
    Oben im Haus erwachte der alte Mann augenblicklich aus seinem unruhigen Schlaf, starrte zur Decke empor und fragte sich, ob das Geräusch gerade eben Traum oder Wirklichkeit gewesen war. Da klopfte es noch einmal. Also Wirklichkeit. Er schlug die Decke beiseite und schlüpfte in seine Pantoffeln, langte nach dem abgetragenen Morgenmantel und zog ihn an, ehe er zum Fenster schlurfte, um es zu öffnen. Er schaute hinab auf die Straße, die leer und verlassen dalag und nach ranzigem Fett stank wie jeden Morgen.
    Aus dem Schatten unter dem Haus trat scheu ein Junge, sah zu Opur herauf und schlug dabei das Tuch zurück, mit dem er sich bis über den Kopf verhüllt hatte. Meister Opur sah blonde Locken, die ein Gesicht umrahmten, das er nie mehr in seinem Leben wiederzusehen erwartet hatte.
    »Du?!«
    »Helft mir, Meister«, flüsterte der magere Junge. »Ich bin geflüchtet.«
    Die jähe Freude, die das Herz des alten Mannes erfüllt hatte, wich schmerzhafter Ernüchterung. Den Bruchteil eines Augenblicks lang hatte er geglaubt, es würde wieder werden wie früher.
    »Warte«, sagte er. »Ich komme.«
    Der Junge, was hatte er getan? Opur schüttelte traurig den Kopf, während er die Treppe hinuntereilte. Er hatte sich ins Unglück gestürzt, das hatte er. Es würde kein gutes Ende nehmen. Opur wusste es, aber etwas in ihm war bereit, das Gegenteil zu glauben.
    Er schob den schweren Riegel der Tür zurück. Da stand der Junge, zitternd, und sah ihn verschreckt an aus großen, blauen Augen, die einmal vertrauensvoll und entrückt geschaut hatten. Sein Gesicht war gezeichnet von Angst und Entbehrungen.
    »Komm herein«, sagte der alte Flötenmeister und wusste immer noch nicht, ob er sich freuen oder fürchten sollte. Aber als der Junge dann in den engen, dunklen Flur trat und sich unter der niedrigen Decke duckte, nahm er ihn ohne einen weiteren Gedanken einfach in den Arm, »Meister Opur, Ihr müsst mich verstecken«, flüsterte der Junge schlotternd. »Sie sind hinter mir her. Sie jagen mich.«
    »Ich werde dir helfen, Piwano«, murmelte Opur und spürte dem Klang dieses Namens nach, den er nicht mehr gebraucht hatte, seit die Gilde ausgerechnet diesen Jungen, seinen besten Schüler, den begabtesten Dreiflötenspieler seit Menschengedenken, zum Dienst bei den kaiserlichen Schiffern geschickt hatte.
    »Ich will wieder Dreiflöte spielen, Meister. Werdet Ihr mich unterrichten?« Der Unterkiefer des Jungen bebte. Er war am Ende seiner Kräfte.
    Opur klopfte ihm sanft und, wie er hoffte, beruhigend auf den Rücken. »Sicher, mein Junge. Aber erst einmal musst du schlafen. Komm.«
    Er nahm das große Bild ab, das die Tür zur Kellertreppe verbarg, und stellte es beiseite. Piwano folgte ihm hinunter in den Kellerraum, dessen Boden aus festgetretenem Lehm bestand und dessen Wände roh gemauert waren. Eines der alten, staubigen Regale konnte in unsichtbaren Angeln gedreht werden und gab den Zugang zu einem zweiten, versteckten Kellerraum frei, in dem es eine Bettstatt gab, eine Öllampe und einige Vorräte. Der greise Flötenmeister versteckte nicht zum ersten Mal in seinem Leben einen Flüchtling.
    Es dauerte nur Augenblicke, bis der Junge eingeschlafen war. Er schlief mit offenem Mund, und sein Atem stockte manchmal, um dann keuchend nachgeholt zu werden. Eine seiner Hände krallte sich zuckend in einen unsichtbaren Widerstand, um sich erst nach langem Krampf wieder zu lösen.
    Opur nickte schließlich

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