Die Haarteppichknüpfer - Roman
aber jemals in die Lage kommen solltest, fliehen zu müssen, will ich dir einen Fluchtweg erklären, den nur wenige Eingeweihte kennen.« Opur deutete auf ein etwas zurückgesetztes Gebäude, schräg gegenüber dem Haus des Flötenmeisters, eingeklemmt zwischen den Auslagen eines Korbwarenmachers und der Theke einer schmierigen dunklen Garküche. »Das ist eine Wäscherei. Dort rennst du hinein. Von vorne sieht man sofort, dass hinter dem Haus ein großer Trockenhof liegt, auf dem praktisch immer Tücher zum Trocknen aufgehängt sind. Zwischen den Tüchern sieht man dich nicht. Woran aber ein Verfolger sofort denken wird, sind die zahllosen Ausgänge, die von dem Trockenhof aus in andere Gassen führen. Du jedoch wendest dich sofort nach links und betrittst die Garküche von hinten. Dort führt eine Klappe im Boden in den Keller, und unten gibt es ein Regal ähnlich wie bei mir, das du beiseite schwenken kannst. Dahinter liegt ein Gang, der sehr, sehr weit führt und schließlich in das unterirdische Wassersystem der Hochstadt mündet. Das heißt, selbst wenn man deinen Einstieg entdecken sollte, gibt es buchstäblich tausende von möglichen Ausstiegen für dich.«
Piwano nickte wieder. Opur hatte erlebt, wie dieser Junge sich mit einem Blick die Noten ganzer Musikstücke eingeprägt hatte; er war sicher, dass er alles verstanden hatte und niemals vergessen würde.
Er ging hinüber zu dem Schrank, in dem er seine Noten, Bücher und Instrumente verwahrte. Nach kurzer Überlegung zog er ein zerkratztes Kästchen hervor, öffnete es und nahm eine Dreiflöte heraus, die er Piwano reichte.
»Das ist eine sehr, sehr alte Flöte, die ich seit langer Zeit aufbewahrt habe für einen besonderen Augenblick«, erklärte er. »Und ich denke, dies ist dieser Augenblick.«
Piwano hielt sie andächtig in Händen, drehte und betrachtete sie. »Irgendetwas ist anders mit ihr«, sagte er.
»Sie hat statt der Flöte aus Knochen eine aus Glas.« Opur schloss das leere Kästchen und legte es beiseite. »Das Glas ist milchig geworden vom Alter. Du wirst dich ein wenig umgewöhnen müssen, denn eine Glasflöte klingt schärfer als eine Knochenflöte.«
Vorsichtig setzte Piwano die Dreiflöte an die Lippen und umschloss die drei sich windenden Flöten mit den Fingern. Er blies einige Akkorde. Sie klangen grell und misstönend. Der alte Mann lächelte.
»Du wirst es meistern.«
Zehn Tage später startete das kaiserliche Raumschiff. Die ganze Zeit hatte man den silbernen Koloss in der Ferne auf dem alten, zernarbten Raumhafengelände stehen sehen. An diesem Morgen aber dröhnte die Luft über der Stadt vom Singen der Raketenmotoren, und Opur und Piwano verfolgten gemeinsam vom Fenster aus, wie der metallglänzende Flugkörper über den Häusern aufstieg, schwerfällig zunächst, dann immer schneller höher und höher steigend, bis er zu einem winzigen Punkt geschmolzen war, der hoch im Himmel verschwand. Die Stille, die danach einkehrte, war wie eine Erlösung.
»Du darfst jetzt nicht leichtsinnig werden, Piwano«, mahnte der Alte. »Sie sind abgeflogen, und vor zwei Jahren werden sie nicht wiederkommen. Aber die Gilde sucht sicher weiterhin nach dir.«
Monate vergingen. Piwano fand bald zu seiner alten Virtuosität zurück; stundenlang saß er in seinem Versteck und spielte die klassischen Stücke, feilte an seiner Technik und versuchte sich an Variationen, unermüdlich und rastlos. Opur saß manchmal bei ihm und hörte ihm einfach zu, manchmal spielten sie auch zu zweit. Beibringen konnte er ihm ohnehin kaum noch etwas.
Piwano glühte vor Begeisterung. Bald war er so weit, dass er sich an die schwierigsten Stücke wagte; Stücke, die selbst Opur immer Probleme bereitet hatten. Und zur unendlichen Verblüffung des alten Flötenmeisters schaffte es der Junge sogar, sich am HA-KAO-TA zu bewähren, einem der als unspielbar geltenden klassischen Stücke.
»Was sind das für Worte unter den Noten?«, fragte Piwano, als Opur ihm eine alte Handschrift vorlegte.
»Transkriptionen einer vergessenen Sprache«, sagte der Meister. »Die klassischen Dreiflötenstücke sind alle sehr alt, manche von ihnen hunderttausend Jahre und mehr. Einige Flötenmeister sagen, dass die Dreiflöte älter ist als die Sterne und dass die Welt aus ihrem Klang erschaffen wurde. Aber das ist natürlich Unsinn.«
»Weiß man, was die Worte bedeuten?«
Opur nickte. »Komm mit.«
Sie stiegen aus dem Keller hinauf in den Unterrichtsraum. Opur ging zu einem
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