Die Haarteppichknüpfer - Roman
seufzend. Behutsam hob er die Öllampe auf und stellte sie an einen sicheren Ort. Dann ließ er den Schlafenden allein, schloss die Geheimtür und ging hinauf. Einen Augenblick erwog er, selber noch ein wenig zu schlafen, entschied sich dann aber dagegen.
Stattdessen bereitete er sich sein Frühstück in der ersten Helligkeit des Tages und verzehrte es schweigend, erledigte ein paar Hausarbeiten und ging dann hinauf in seinen Unterrichtsraum, um sich über die alten Notenschriften zu setzen.
Seine erste Schülerin an diesem Tag kam kurz vor Mittag.
»Es tut mir leid wegen des Unterrichtsgeldes«, begann sie sofort zu plappern, kaum dass er die Tür geöffnet hatte. »Ich weiß, dass es heute fällig wäre, und ich habe auch daran gedacht, schon letzte Woche und die ganze Zeit. Also, was ich damit sagen will, ist, dass ich es nicht vergessen habe …«
»Ja, ja«, nickte Opur unwillig.
»Es ist nur so, dass ich auf meinen Bruder warten muss; er muss jeden Tag in der Stadt eintreffen -eigentlich sollte er schon längst angekommen sein. Er fährt nämlich mit dem Händler Tertujak, müsst Ihr wissen, und er gibt mir immer das Geld, das ich brauche, wenn er von einer Reise zurückkommt. Und der Händler Tertujak wird schon erwartet, da könnt Ihr fragen, wen Ihr wollt …«
»Schon gut«, unterbrach der Flötenmeister ungeduldig und bedeutete ihr, die Treppe zum Unterrichtsraum hochzusteigen. »Dann zahlst du eben das nächste Mal. Wir wollen beginnen.«
Opur spürte seine eigene Unrast. Er musste zu seiner Mitte zurückfinden, so gut er es fertigbrachte. Sie setzten sich auf zwei Kissen einander gegenüber, und nachdem die Frau ihre Dreiflöte und ihre Übungsnoten ausgepackt hatte, hieß Opur sie die Augen schließen und ihrem eigenen Atem lauschen.
Der Flötenmeister tat das Gleiche. Er spürte, wie die Unruhe von ihm abfiel. Innere Sammlung war wichtig. Ohne innere Sammlung war es aussichtslos, ein derart schwieriges Instrument wie die Dreiflöte zu spielen.
Wie es seine Gewohnheit war, griff Opur zuerst nach seiner eigenen Flöte und spielte ein kurzes Stück. Danach erlaubte er seiner Schülerin, die Augen wieder zu öffnen.
»Wann werde ich so etwas spielen können, Meister?«, fragte sie leise.
»Das war das PAU-LO-NO«, erklärte Opur ruhig, »das einfachste der klassischen Stücke. Es wird das erste klassische Stück sein, das du einmal spielen wirst. Aber wie alle überlieferten Flötenstücke ist es mehrstimmig – das heißt, du musst zuerst die einstimmige Spielweise beherrschen. Lass hören, was deine Übungen machen.«
Sie setzte ihre Dreiflöte an die Lippen und blies. Nach dem Spiel Opurs klang es wie ein schauerlicher Misston, und der greise Meister musste wie so oft seine ganze Beherrschung aufbieten, um das Gesicht nicht zu einer gequälten Grimasse zu verziehen.
»Nein, nein, die erste Übung noch einmal. Du musst vor allem darauf achten, den Ton sauber zu spielen …«
Die Dreiflöte bestand aus drei einzelnen Flöten mit je acht Löchern, die jeweils mit den Kuppen der einzelnen Fingerglieder abgedeckt werden konnten. Aus diesem Grund waren die Flöten eigentümlich s-förmig gebogen, um sie den Händen des Spielers und den unterschiedlichen Längen der Finger anzupassen. Jede Flöte bestand aus einem anderen Material, eine aus Holz, eine aus Knochen und eine aus Metall. Jede der drei Flöten gab dem Ton eine andere Klangfarbe, und alle zugleich brachten jenen unnachahmlichen Klang hervor, für den die Dreiflöte seit jeher berühmt war.
»Du musst darauf achten, den kleinen Finger locker zu lassen, locker und beweglich. Er muss abgespreizt werden, da die Bauweise der Flöte und die Anordnung der Löcher es so verlangt, aber er darf seine Beweglichkeit nicht verlieren …«
Eine wichtige Voraussetzung für einen Dreiflötenspieler waren bewegliche, lang gestreckte Finger mit ausgeprägten Fingergliedern. Insbesondere ein langer kleiner Finger war von Vorteil. Die Spielweise bestand nicht wie bei einer normalen Flöte darin, lediglich die Löcher gleichmäßig abzudecken oder freizugeben. Nur Anfänger spielten so, um sich mit den Grundlagen der Flötentechnik und der Musiklehre vertraut zu machen. Der Fortgeschrittene spielte die Dreiflöte jedoch mehrstimmig. Durch geschicktes Beugen und Abwinkeln der einzelnen Finger erzeugte er auf jeder Flöte einen anderen Ton; beispielsweise konnte er die mittleren Glieder einer Reihe von Fingern anheben, sodass die Löcher auf den beiden
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