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Die Haarteppichknüpfer - Roman

Die Haarteppichknüpfer - Roman

Titel: Die Haarteppichknüpfer - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Bastei Lübbe
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kleinen Tischchen unter dem Fenster zur Gasse und nahm den mit abgewetzten Schnitzereien verzierten Kasten, der darauf stand.
    »Die alten Flötenstücke sind in Wahrheit Geschichten, geschrieben in einer alten, vergessenen Sprache. Die Worte jener Sprache sind keine Worte, wie wir sie sprechen, sondern Tonfolgen auf der Dreiflöte. In diesem Kasten verwahre ich den Schlüssel zu dieser Sprache. Er ist das Geheimnis der Flötenmeister.«
    Er öffnete den Deckel des Kästchens. Seine eigene Flöte lag darin und ein Stapel alter Papiere, Notenabschriften und handschriftliche Notizen, die zum Teil vergilbt und brüchig waren.
    Piwano nahm die Niederschriften, die Opur ihm reichte, und studierte sie. Er nickte leicht, als er das Prinzip verstanden hatte: die Länge der Töne, Rhythmus und Betonung folgten musikalischen Notwendigkeiten, während die Tonfolgen und Akkordreihungen für Worte und Begriffe standen.
    »Zum Teil habe ich die Geschichten entziffert. Die ältesten der klassischen Stücke handeln von einem versunkenen goldenen Zeitalter, in dem Wohlstand und Glück herrschten und in dem weise, gütige Könige regierten. Andere Stücke erzählen von einem schrecklichen Krieg, mit dem das dunkle Zeitalter begann, und sie berichten von dem letzten König, der seit tausend Jahren einsam in seinem Schloss eingesperrt lebt und nichts tut, als Tränen zu weinen um sein Volk.«
    Er legte die Papiere zurück und schloss den Deckel wieder.
    »Vor meinem Tod werde ich dir diesen Kasten übergeben, denn du sollst mein Nachfolger werden«, erklärte er.
    Die Zeit des Jahreswechsels kam und damit die Zeit der Vorbereitungen für das alljährliche Konzert der Schüler. Opur fragte sich, ob der Kreis der Dreiflötenspieler und der wenigen Zuhörer, Verwandte meist oder Freunde, jemals so groß werden würde, dass er sie nicht mehr in seinem Unterrichtsraum unterbrachte. In den letzten Jahren schien diese Veranstaltung immer weniger Zuhörer zu finden. Aber das Konzert war wichtig, denn es gab seinen Schülern ein Ziel, und der Wettbewerb mit anderen vermittelte ihnen eine Perspektive.
    Kurz vor dem Konzert eröffnete ihm Piwano, dass er auch vorspielen wollte.
    »Nein«, sagte Opur entschieden. »Das ist viel zu riskant.«
    »Warum?«, beharrte Piwano trotzig. »Glaubst du, die Gilde wird dir einen Spion ins Publikum setzen? Du kennst doch alle Leute, die kommen werden, seit Jahren.«
    »Was glaubst du, wie schnell sich das herumspricht, dass jemand das HA-KAO-TA spielt? Sei nicht leichtsinnig, Piwano.«
    Piwano ballte die Fäuste. »Meister, ich muss spielen. Ich kann nicht ewig im Keller sitzen und nur für mich musizieren. Es ist … es ist nicht vollständig, versteht Ihr? Kunst ist erst Kunst, wenn sie andere Menschen erreicht. Wenn ich spiele, ohne dass es einer hört, dann macht es keinen Unterschied, ob ich spiele oder nicht.«
    Der Flötenmeister spürte Ärger in sich aufsteigen und Angst um den Jungen. Aber er kannte ihn gut genug, um zu wissen, dass Piwano letztendlich immer machen würde, was er für richtig hielt, selbst wenn es ihn das Leben kosten sollte.
    »Gut, meinetwegen«, gab er nach. »Aber nur unter einer Bedingung: Du wirst keine schwierigen Stücke spielen, nichts, das auffallen könnte. Du wirst die leichten mehrstimmigen Stücke spielen, die die anderen auch beherrschen. Nichts, was über das SHEN-TA-NO hinausgeht.« Das war sein voller Ernst. Er war bereit, Piwano mit dem Hinauswurf zu drohen, falls er das nicht akzeptierte.
    Aber Piwano nickte dankbar. »Einverstanden, Meister.«
    Trotzdem sah Opur dem Konzert mit einem unguten Gefühl entgegen. Seine Anspannung übertrug sich auch auf seine übrigen Schüler und machte sie nervös. Noch nie zuvor waren ihm die notwendigen Vorbereitungen so schwer gefallen. Unzählige Male stellte er die Reihenfolge der Darbietungen um, ebenso oft änderte er die Sitzordnung; er wurde unzufrieden mit den Kissenbezügen und zerstritt sich fast mit dem Koch aus der Garküche, der für Getränke und einen kleinen Imbiss sorgen sollte.
    Dann kam der Abend des Konzerts. Opur empfing alle Besucher persönlich an der Tür, um sie zu begrüßen; oben im Unterrichtsraum wies ihnen eine seiner Schülerinnen die Sitzplätze zu. Alle kamen in ihren besten Kleidern, was allerdings bei den Leuten, die in diesem Teil der Stadt lebten, nicht viel heißen mochte. Opur hatte als kleiner Junge einmal ein Konzert miterlebt, das sein eigener Meister in der Hochstadt gegeben hatte;

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