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Die Haarteppichknüpfer - Roman

Die Haarteppichknüpfer - Roman

Titel: Die Haarteppichknüpfer - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Bastei Lübbe
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der alle Fragen beantwortet hätte.
    Sucht nur, dachte er, während er das stählerne Tor wieder zufahren ließ. Rennt euch die Köpfe ein dabei. Ihr glaubt, ihr habt ein großes Geheimnis entdeckt. Ihr habt keine Ahnung. Ihr habt noch nicht einmal gekratzt an der Geschichte des Reiches.

Jubad
    Seine linke Hand hielt die rechte vor der Brust fest – eine Geste, die sein Markenzeichen geworden war und die häufig imitiert wurde, von Epigonen wie von Neidern -, und sein Blick glitt über sonnendurchflutete Gärten und blütenstrotzende Rabatten, über glitzernde Seen und paradiesische Spazierwege – aber er sah nichts, nur die verschwommene, graue Düsternis eines versunkenen Zeitalters. Sein Wagen folgte einem Weg, der sich verspielt zwischen eindrucksvollen Bauwerken aus allen Epochen dahinschlängelte und der sie zum Zentrum des ehemaligen Kaiserpalastes führen würde – doch vor Jubads Augen stand nur der wuchtige, dunkle Säulenbau, den sie verlassen hatten.
    Das Archiv des Kaisers … Er hatte es immer vermieden, das uralte Gebäude zu betreten, das Dokumente und Artefakte aus der gesamten Kaiserzeit beherbergte. Vielleicht hätte er es auch heute vermeiden sollen. Aber aus irgendeinem Grund war es ihm unausweichlich erschienen, an der Besprechung teilzunehmen, die dort stattgefunden hatte, auch wenn ihm dieser Grund nicht einmal mehr einfallen wollte.
    Zuletzt war er regelrecht geflüchtet. Hatte zu allem ja und jawohl gesagt und war geflüchtet, als müsse er dem Geist des toten Herrschers entkommen. Jubad musste plötzlich schwer und quälend Luft holen, und er bemerkte aus den Augenwinkeln einen besorgten Blick seines Fahrers. Er wollte etwas sagen, um ihn zu beruhigen, aber er wusste nicht was. Er wusste auch kaum noch, worum es überhaupt gegangen war in dem Gespräch, so sehr musste er ankämpfen gegen Wogen der Erinnerung, die ihn zu überspülen drohten. Der Erinnerung an eine Vergangenheit, die sein Leben bestimmte.
    Berenko Kebar Jubad. Sein eigener Name kam ihm längst vor wie der eines anderen Mannes, so oft hatte er ihn in Ansprachen gehört und in Geschichtsbüchern gelesen. Jubad, der Befreier. Jubad, der Bezwinger des Tyrannen. Jubad, der Mann, der den Kaiser getötet hatte.
    Seit dem Ende des Kaiserreiches führte er selber das Leben eines Herrschers. Er saß im Rat der Rebellen, sprach vor dem Parlament, und wo immer er ging und was immer er sagte, stets spürte er ehrfürchtige Blicke und ehrerbietige Zuneigung. Da man auf ihn hörte, hatte er maßgeblich daran mitwirken können, die Region Tempesh-Kutaraan in die Selbstständigkeit zu entlassen, und auch die Befriedung der Provinz Baquion war wenigstens zum Teil sein Werk gewesen. Aber nicht diese Leistungen waren es, an die sich spätere Generationen erinnern würden. Erinnern würde man sich an ihn für alle Zeiten als an den Mann, der den tödlichen Hieb gegen den Despoten geführt hatte.
    Einer plötzlichen Eingebung folgend ließ er den Fahrer den Wagen anhalten. »Ich werde ein Stück zu Fuß gehen«, sagte er und fügte, als er den besorgten Blick des Mannes bemerkte, hinzu: »Ich bin nicht so alt, wie ich aussehe. Das sollten Sie doch wissen.«
    Vierundfünfzig war er, aber er wurde nicht selten auf siebzig geschätzt. Und als er ausstieg, fühlte er sich fast auch so. Er blieb stehen und wartete, bis der Wagen außer Sicht war.
    Dann atmete er tief durch und sah sich um. Er war allein. Allein in einem kleinen Garten, der umstanden war von blaugrünen, zartgefiederten Büschen mit dunkelroten Knospen. Irgendwo sang ein Vogel ein einsames Lied, eine immer gleiche Folge von Tönen. Es klang, als übe er emsig.
    Jubad schloss die Augen, lauschte dem Vogelgesang, der ihn eher an Flötenspiel erinnerte als an die Vögel seiner Heimat, und genoss die Wärme der Sonne auf seinem Gesicht. Köstlich, dachte er, einfach nur hier zu stehen, irgendwo, und ganz unwichtig zu sein. Von niemandem beobachtet zu werden. Einfach nur zu leben.
    Als er die Augen wieder öffnete, stand zu seiner Überraschung ein kleiner Junge vor ihm und starrte ihn an. Er hatte ihn nicht kommen hören.
    »Du bist Jubad, stimmt’s?«, sagte der Junge.
    Jubad nickte. »Ja.«
    »Hast du gerade über ein schwieriges Problem nachgedacht?«, wollte das Kind wissen. »Darum habe ich dich nämlich nicht gestört.«
    »Das war sehr freundlich von dir«, meinte Jubad lächelnd. »Aber ich habe über nichts Besonderes nachgedacht. Ich habe nur dem Vogel zugehört.«
    Der

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