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Die Hand die damals meine hielt - Roman

Titel: Die Hand die damals meine hielt - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Maggie O Farrell
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macht, die Cappuccino-Maschine einstöpselt, nachsieht, ob genug Milch im Kühlschrank ist, ein heruntergefallenes Poster wieder an die Wand heftet. Nach ihr ein Mann, der sich einen Eimer Wasser holt und einen Wischmopp über den Boden schiebt. Auch er übersieht die Focaccia-Kruste.

    Und genau um Viertel vor zehn erscheint der erste Gast des Tages: Ted.

    Ted bestellt an der Theke einen Latte macchiato zum Mitnehmen. Er ist heute früh dran. Der Kellner wischt immer noch; er taucht den Mopp in das graue, schmierige Wasser und klatscht die nassen, verfilzten Fransen auf den Boden. Sie wehen hin und her, wie Haare in einer Strömung. Und urplötzlich, ohne jede Vorwarnung, durchzuckt Ted wieder das Gefühl, das ihn in letzter Zeit so oft überfällt - dass ihm etwas, das er noch nie gesehen hat, auf innigste Weise seltsam vertraut ist. Und dass es wichtig für ihn ist. Ein Mopp, der über einen nackten Holzboden gleitet. Warum sollte ihm dieser Anblick so ungeheuer bedeutsam vorkommen? Als hätte er das Gefühl, dieses Bild könnte ihm etwas verraten. Ist das nicht das erste Anzeichen einer Geisteskrankheit, dass man in allem ein Zeichen zu sehen beginnt; dass man sich einbildet, alltägliche Dinge und Handlungen enthielten eine Botschaft? Er muss sich beherrschen, dass er dem Mann nicht die Hand auf den Arm legt und sagt, bitte. Bitte hören Sie auf damit.
    Er blinzelt und zwingt sich, woandershin zu sehen. Auf die Gläserreihen in den Regalen hinter der Theke. Auf die Bedienung, die an den Hebeln der Cappuccino-Maschine hantiert. Auf die Dampfwolke, die an der Seite aus dem Gerät quillt.
    Es ist, als würde man mit einer Taucherbrille unter die Wasseroberfläche schauen und eine vollkommen andere Welt entdecken, die es dort allem Anschein nach schon immer gegeben hat, ohne dass man etwas von ihr wusste. Eine Welt jenseits des undurchsichtigen Wasserspiegels, die von
Leben und Geschöpfen wimmelt und von tieferer Bedeutung strotzt.
    »Bitte schön.«
    Er fährt zusammen. Die Kellnerin hält ihm einen Becher hin.
    »Ach«, sagt er. »Danke.« Und gibt ihr ein paar Münzen.
    Auf dem Bürgersteig bleibt er stehen. Er erinnert sich an etwas. Und woran? Es ist kaum der Rede wert. Eine Erinnerung, wie sie bestimmt jeder hat. Dass er zu einem Fenster hochgehoben wird, das einen grün gestrichenen Sims hat, damit er hinaussehen kann. Dass ihn jemand festhält und stützt, eine Frau. »Schau«, sagt sie. »Siehst du?« Das Oberteil und die Bündchen ihres Kleides sind bunt bestickt, und in die Fäden sind hunderte winzig kleiner Spiegel eingenäht. »Schau«, sagt sie noch einmal, und er schaut, und er sieht, dass der Garten unter einer schweren weißen Decke verschwunden ist. Eine ausgesprochen banale Erinnerung, aber warum passt nichts an dieser Erinnerung in die Kindheit, die er als die seine kennt? Und warum löst das eine solche Panik in ihm aus?
    Ted blickt in den farblosen, leeren Himmel über der Bayton Street. Er lehnt sich an die Wand. Vollkommen bewusst denkt er: Jetzt geht es wieder los. Sein Kopf vernebelt sich, sein Herz schlägt schneller, als ob es von einem Feind, einer Gefahr weiß, von denen er noch nichts ahnt. Lichtpunkte flirren vor seinen Augen. Sie tanzen und glitzern in dem endlos weiten Himmel, in den Schaufenstern der Geschäfte gegenüber, im Asphalt der Straße. Schau, hat die Frau gesagt, siehst du? Die winzigen Spiegel an ihrem Kleid, in denen sich das Licht fing und die rings um sie Sternbilder an die Wände warfen. Er erinnert sich genau daran, wie es sich anfühlte, die Finger in ihre warme Schlüsselbeinkuhle zu legen,
wie ihre Haarspitzen ihn an der Wange kitzelten. Und an das Gesicht. Das Gesicht war …
    »Geht’s Ihnen nicht gut?«
    Ted sieht zwei hellbraune Halbschuhe, den unteren Rand einer Jeans - eine Kombination, die ihm besonders zuwider ist. Er merkt, dass er vornübergebeugt dasteht, die Hände auf die Knie gestützt. Er dreht dem Menschen mit den hellbraunen Schuhen den Kopf zu. Einem Mann, älter als er, der besorgt auf ihn hinuntersieht. »Doch, doch », sagt er. »Alles in Ordnung. Danke.«
    Der Mann klopft ihm auf die Schulter. »Ganz bestimmt?«
    »Hm, ja.«
    Der Mann lacht. »Lange Nacht geworden, gestern, was?« Und geht weiter.
    Ted richtet sich auf. Die Straße ist noch dieselbe; das Café hinter ihm ist dasselbe; das morgendliche Soho, das seinem Alltag nachgeht, ist noch da. Er bückt sich nach seinem Kaffeebecher und trinkt einen Schluck. Dabei versucht er, nicht

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