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Die Hand die damals meine hielt - Roman

Titel: Die Hand die damals meine hielt - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Maggie O Farrell
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dem Boot, halb unter einer Plane verborgen, und er will schreien, will sie rufen, doch dann steht ein Polizist zwischen ihm und dem anlegenden Boot, und er sagt: »Bleiben Sie zurück, Sir, bitte, treten Sie zurück, bringen Sie das Kind weg, bringen Sie es weg.«

    Das ist das Ende. Diese Worte gehen ihr durch den Kopf. Das ist also das Ende. Sie wusste Bescheid. Eine Zeitlang, mehrere Minuten lang, hatte sie da draußen hinter dem Cobb gegen den kalten, starken Griff der Strömung angekämpft. Und sie sah es. Sie sah es kommen. Sie wusste, dass der Kampf begonnen hatte, und sie wusste, dass sie ihn nicht gewinnen würde.

    In diesem Augenblick dachte sie nicht an sich selbst, nicht an ihre Eltern, ihre Geschwister, an Innes, an das Leben, das sie hinter sich gelassen hatte, als sie in die Wellen schritt, an den Moment, wo die Entscheidung noch bei ihr lag, wo sie am Strand hätte bleiben können, mit dem Rücken zum Meer. Nicht einmal an Robert dachte sie, der dort mit ihren Sachen saß, der bald ihren Namen in den rastlosen Wind hinausrufen würde.
    Als die Wellen sie unter Wasser drückten, konnte sie nur an Theo denken.
    Sie wälzten sie nach oben, und sie wälzten sie nach unten, und hin und wieder schaffte sie es, sich an die Oberfläche zu kämpfen, so dass sich das Wasser teilte und sie nach Luft schnappen konnte, aber sie wusste, sie wusste, dass es nicht lange dauern würde, und sie wollte sagen, bitte. Sie wollte sagen, nein. Wollte sagen, ich habe einen Sohn, ein Kind, das darf nicht geschehen. Weil man weiß, dass sie nie wieder jemand so sehr lieben wird, wie man selbst sie liebt. Man weiß, dass niemand so für sie sorgen wird. Man weiß, dass es unmöglich ist, undenkbar, dass man ihnen entrissen wird, dass man sie zurücklassen muss.
    Doch sie wusste, dass sie ihn nicht wiedersehen würde. Sie würde ihm heute Abend nicht das Essen kleinschneiden. Sie würde nicht den Drachen zusammenlegen, nicht seine feuchten Sachen zum Lüften raushängen, ihm vor dem Zubettgehen kein Bad einlassen, nicht seinen Schlafanzug unter dem Kopfkissen hervorholen. Sie würde nicht mitten in der Nacht seine Katze vom Fußboden aufheben. Sie würde nach seinem ersten Schultag nicht am Schultor auf ihn warten. Nicht seine Hand halten, wenn er lernte, seinen Namen zu schreiben, den Namen, den sie ihm gegeben hatte. Nicht sein Fahrrad am Sattel festhalten, wenn
er es zum ersten Mal ohne Stützräder probierte. Sie würde ihn nicht pflegen, wenn er Windpocken und Masern hatte; es würde nicht sie sein, die ihm seine Medizin gab oder das Fierberthermometer herunterschüttelte. Sie würde nicht da sein, um ihm zu zeigen, dass man erst nach rechts, dann nach links und dann wieder nach rechts schauen muss, oder wie man sich die Schuhriemen bindet oder die Zähne putzt oder den Reißverschluss an der Regenjacke hochzieht oder die Socken nach dem Waschen zu Paaren zusammenlegt oder telefoniert oder sich Butter aufs Brot streicht. Oder was man tun muss, wenn man in einem Kaufhaus verloren geht, oder wie man Milch in eine Tasse gießt oder mit dem Bus nach Hause fährt. Sie würde nicht erleben, dass er so groß wie sie wurde und größer. Sie würde nicht da sein, wenn er zum ersten Mal Liebeskummer hatte, zum ersten Mal allein mit dem Auto fuhr oder sich allein in die Welt hinauswagte oder wenn ihm klar wurde, was er beruflich machen und wie er leben wollte und mit wem und wo. Sie würde nicht da sein, um ihm den Sand aus den Schuhen zu klopfen, wenn er vom Strand kam. Sie würde ihn nie wiedersehen.
    Sie kämpfte wie eine Wahnsinnige. Sie kämpfte um ihr Leben, kämpfte darum zurückzukehren. Das würde sie ihm gern auf irgendeine Weise mitteilen. Dass sie es versucht hat. Sie würde es ihm gern sagen, Theo, ich habe es versucht. Ich habe gekämpft, weil ich es nicht über mich bringen konnte, dich zu verlassen. Aber ich habe verloren.
    Was hätte sie dafür gegeben zu gewinnen? Sie konnte es nicht sagen.

B is sie wieder in London sind, ist es Abend geworden. Elina sitzt hinten, die Hände zwischen den Knien. Jonah schläft im Kindersitz. Ted hat während der gesamten Fahrt durch die Windschutzscheibe gestarrt. Auf dem Westway sagt er: »Bring mich zum Myddleton Square.«
    Simmy sieht Ted von der Seite an, dann sucht er im Rückspiegel Elinas Blick. »Ted«, beginnt er. »Meinst du nicht, es wäre besser, wenn du …«
    »Bring mich zum Myddleton Square, Sim. Das ist mein voller Ernst.«
    Elina beugt sich vor. »Was willst du da,

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