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Die Hand die damals meine hielt - Roman

Titel: Die Hand die damals meine hielt - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Maggie O Farrell
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nachdenklich, prüfend. Ob er vielleicht auch einen Ammoniten preisgeben wird, wie den, den er Lexie geschenkt hat? »Sie schwimmt«, sagt er. »Sie kommt bald wieder.«
    »Wo ist die Mama?«, fragt Theo noch einmal.
    Robert sieht aufs Meer hinaus. Er sieht nach links, in Richtung Cobb, er sieht nach rechts. Er richtet sich auf. Er sucht den anthrazitgrauen Horizont ab. Nichts. Er hält sich zum Schutz gegen den matten Glanz der untergehenden Sonne die Hand vor die Augen. »Sie …« beginnt er. Dann geht er ans Wasser. Wellen rauschen auf und brechen sich im Sand. Er sucht das Meer ab, das ausgebreitet vor ihm liegt.
    Er läuft über den Strand zurück zu dem Jungen, der mit seinen sandigen Händen noch immer wie angewachsen dasteht. Robert nimmt ihn auf den Arm und läuft los, über die Kiesel. »Wir gehen auf den Cobb und halten nach ihr Ausschau, was meinst du?«, sagt er, aber die Wörter kommen ihm nicht aufmunternd und ruhig über die Lippen, sondern panisch und abgehackt. »Vielleicht ist sie einmal ganz um ihn herumgeschwommen und kommt auf der anderen Seite wieder zurück.«
    Robert erklimmt die Stufen zu der hohen Hafenmauer. Theo fest an sich pressend, rennt er über die schiefen Steine. Nach der Hälfte der Mauer bleibt er stehen.
    »Wo ist die Mama?«, fragt Theo wieder.
    »Sie ist …« Robert schaut. Er schaut und schaut. Bis ihm die Augen wehtun. Bis an sein Lebensende wird er sich nicht erinnern können, etwas anderes als die See gesehen zu haben, die endlose, durch nichts unterbrochene Wasserfläche des Meeres. Alle paar Sekunden macht sein Herz einen Satz, weil er etwas erspäht hat - eine Boje, eine besonders spitze Welle. Aber da ist nichts. Sie ist nirgends.

    Er klettert wieder von der Mauer, hinunter auf den unteren Teil des Cobb, und läuft bis ans Ende. Hier ist das Wasser tief und unheimlich grün, schwappend fasst es nach den Steinen. Theo fängt an zu weinen. »Ich will das nicht«, sagt er. »Dass das Meer da so nah ist. Das Meer da.« Und er zeigt mit dem Finger darauf, für den Fall, dass Robert ihn nicht verstanden hat.
    Robert dreht sich um, läuft so vorsichtig wie möglich über den nassen Cobb zurück, bis zu einer Stelle, wo mehrere Fischerboote vor Anker liegen. In einem steht ein Mann, die Arme voll von verhedderten Netzen.
    »Bitte«, ruft Robert zu ihm hinunter. »Bitte. Wir brauchen Hilfe.«
    Es folgen lange Minuten, Stunden, in denen Robert mit Theo im Arm an der Hafenmauer auf einer Bank sitzt. Hin und wieder schweifen die Lichtkegel der Kutter, der Rettungsboote, der Küstenwache über sie hinweg. Er hat das Kind in seine Jacke gehüllt. Nur die Haare schauen heraus. Theo zittert, ein sanftes, rhythmisches Zittern wie das eines untertourigen Motors. Robert wiegt ihn vor und zurück und singt ihm mit heiserer, brüchiger Stimme ein Lied vor, das er vor langer Zeit seinen eigenen Kindern gesungen hat. Irgendjemand - er sieht nicht, wer es ist, einer der Polizisten vielleicht - bringt ihm eine große Tasche und stellt sie neben ihn. Im ersten Moment erkennt er sie nicht. Auf der Tasche liegt ein locker gefaltetes Stück Stoff. Und plötzlich sieht er, dass es Lexies Kleid ist, Lexies Tasche, dass jemand sie vom Strand geholt hat, wo sie gesessen haben. Ohne Theo loszulassen nimmt er das Kleid in die Hand. Es entfaltet sich, wie ein fühlendes, lebendes Wesen. Wie kann ein dünnes Baumwollfähnchen so schwer sein? Es schwingt in der steifen Brise wie ein Pendel hin und her.
Dann fällt ihm der Ammonit ein. Sie hat ihn eingesteckt, bevor sie …
    Schnell lässt er das Kleid sinken, stopft es wieder in die Tasche. Dabei sieht er das Spielzeug, das Theo so liebt, die Strickkatze, in einem Durcheinander aus Trinkbechern, Shorts zum Wechseln, Eimer und Schaufel, einer grünen Harke. Er nimmt sie heraus und hält ihr verdutztes Gesicht in den Jackenspalt, aus dem Theos goldblondes Haar hervorschaut. Erst tut sich gar nichts. Doch dann tauchen Finger auf, packen die Katze und ziehen sie in die Jackenhöhle.
    Jetzt laufen zwei Polizisten über den Cobb in Richtung Hafenbecken. Schon setzen sich auch die anderen Polizisten in Bewegung. Robert steht auf, nimmt Theo wieder auf den Arm. Jemand murmelt: »Sie haben sie.«
    Und er geht los. Ein Boot kommt um die Spitze des Cobb, ein kleiner Kutter, mit leuchtenden Scheinwerfern - ein Mann am Steuerrad, ein zweiter, mit einem Tau in der Hand, am Heck. Robert strengt seine Augen an. Er kann es nicht glauben, aber da liegt eine Gestalt in

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