Die Hand die damals meine hielt - Roman
den Krieg.
Das also waren die nackten Fakten. Aber viel blieb auch ungesagt, unbekannt. Lexie erfuhr zum Beispiel nie, wie Innes aussah oder was er trug, ob er saß, stand oder ging, als er Gloria kennenlernte.
Er war auf Fronturlaub, so viel ließ er einmal durchblicken. Es passierte in der Tate Gallery, bei den Präraffaeliten, vor Beatrice mit dem flammenden Haar. Stellen wir uns Gloria vor dem Gemälde der von ihrem Haar umflossenen Beatrice vor, schlichter gekleidet als gewöhnlich - denn es ist ja eine Gloria in Kriegszeiten -, in geschnürten Halbschuhen, einem praktischen Mantel. Sie trug vermutlich einen Seitenscheitel mit Außenwelle. Und knallroten Lippenstift. Vielleicht einen Schal. Eine Krokotasche über dem Arm.
Ob sie seine Gegenwart gespürt hat? Wie er sich immer näher an sie heranschob? Ob sie vielleicht den Kopf drehte, einmal nur und ganz schnell, um sich dann wieder dem Bild zuzuwenden? Das Gespräch begonnen hat sicher Innes. Womit könnte er es eröffnet haben? Mit einer Bemerkung über das Gemälde? Sie plauderten, schlenderten in
den nächsten Saal, beratschlagten vielleicht, was sie sich noch anschauen wollten. Danach vielleicht ein Kännchen Tee und ein Stück Gebäck in der Cafeteria. Und dann vielleicht ein Spaziergang am Fluss.
Einen Monat später waren sie verheiratet. Auf Fragen nach dem Warum - Ob er in sie verliebt gewesen sei? Was er sich dabei gedacht habe? - reagierte Innes ausweichend und gereizt. Durchaus möglich, dass die Todesfalle Europa seine gesamte Aufmerksamkeit in Anspruch genommen hatte, aber er sprach es nie aus. Er gab nicht gern zu, dass er sich vor irgendetwas fürchtete, wähnte sich unbesiegbar, durch nichts zu erschüttern.
Ferdinanda, die sich auf Enkelkinder freute, stellte ihnen das Souterrain ihres Hauses als Wohnung zur Verfügung. Die neue Schwiegertochter würde ihr Gesellschaft leisten. Lexie hat Ferdinanda nie kennengelernt - sie starb vor ihrer Zeit -, aber wir dürfen sie uns als eine hochgewachsene Frau mit stahlgrauem, straff nach hinten gekämmtem Haar denken, die, in ein seidenes Schultertuch gehüllt, in ihrem Salon (einem prächtigen Raum mit raumhohen Flügelfenstern, die auf den Platz mit seinen Bäumen und Bänken hinausführten) Hof hält, während Consuela, ihre treue Dienerin, Gloria Tee einschenkt.
Innes wurde kurz danach auf einen Stützpunkt in Norfolk versetzt. In der zweiten Woche wurde seine Maschine während eines Luftangriffs über Deutschland abgeschossen. Die gesamte Besatzung kam ums Leben, mit Ausnahme des Heckschützen Innes Kent, einundzwanzig, der seinen Fallschirm öffnete und wie ein Distelsamen ins Feindesland schwebte.
Aber natürlich war es kein friedliches Schweben wie bei einem Distelsamen, sondern ein rasend schneller, beängstigender
Sturz, bei dem ihm die kalte Nachtluft ins Gesicht peitschte und ihm sein verwundetes Bein, in dem Teile des Flugzeugrumpfs und Knochensplitter vom zerschmetterten Schädel des zweiten Heckschützen steckten, Höllenqualen bereitete, während er wie eine Marionette an seinen Schnüren hing und ihm die Baumwipfel entgegenkamen.
Zwei Jahre, bis Kriegsende, wurde Innes in einem Gefangenenlager festgehalten. Über diese Zeit sprach er nie, da konnte Lexie ihn noch so listig fragen. »Das willst du nicht hören«, sagte er bloß. »Doch«, antwortete sie, aber er blieb fest.
Bekannt ist dagegen, dass sich Gloria bei seiner Rückkehr im ganzen Haus am Myddleton Square breitgemacht hatte. Ferdinanda war nicht mehr da, in ein katholisches Altersheim abgeschoben. Consuela war in den Londoner Kriegswirren verloren gegangen. Gloria hatte sämtliche Etagen ausgeräumt, Ferdinandas Kleider, Fotos, Straußenfederfächer, Hüte und Schuhe im Garten verbrannt. Der schwarze Kreis im Gras war noch immer zu sehen. Außerdem traf Innes dort ein vier Monate altes Kind und einen Anwalt namens Charles an. Als er mit seinem Schlüssel die Haustür aufsperrte, tauchte Charles, in den Morgenmantel von Innes’ Vater gehüllt, am oberen Ende der Treppe auf und verlangte zu wissen, wer er war.
Zwar sind die Einzelheiten der nun folgenden Szene nicht überliefert, doch dass Innes ausgesprochen beredt und wortgewaltig vom Leder ziehen konnte, wenn man ihn reizte, lässt sich denken. Wütende Schimpfkanonaden von Innes, Tränen und Gezeter von Gloria sowie verwirrte Zwischenrufe von Charles werden die Folge gewesen sein. Wie auch immer, Gloria willigte in eine Trennung ein, aber nicht in die Scheidung.
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