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Die Hebamme

Die Hebamme

Titel: Die Hebamme Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Cantz Kerstin
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verlassen, das Haus zu verlassen, fortzulaufen unter den Wehen, die Hand auf dem Arm, auf dem Bauch der Frau, wie beiläufig, so geschickt immer weitersprechend. Der Singsang mischte sich unter den Sturm in Anna Textors Ohren, so geschickt war dieses Miststück.
    Sie versetzte ihr einen Stoß, es freute sie, den Schrecken in ihrem hübschen Gesicht unter der blütenweißen Haube zu sehen, die Fassungslosigkeit, als sie gegen die Wand neben der Bettstelle prallte, die Langwasser.
    Gesa dagegen sah, wie sich zu den Füßen der Schwangeren eine Pfütze bildete. Die Frau stöhnte auf, umfasste ihren schweren Leib, und die Textor wich zurück, als die Wasser wie prasselnder Regen zu Boden gingen.
    Als Gesa der Frau zu Hilfe kommen wollte, stieß die Textor sie erneut zurück. Das Kinn der Schwangeren senkte sich zur Brust, und am Hals traten die Adern hervor.
    »Hör auf zu pressen«, fauchte die Textor, »es ist zu früh. Los, auf das Bett mit dir.«
    Sie drückte die Frau zurück, die versuchte sich mit den Armen abzustützen, griff ihr in die Kniekehlen und zerrte die Decke unter ihr fort.
    »Falten! Zügig, eine dicke Unterlage!«, herrschte sie Gesa an, hinter der die beiden anderen Frauen näher kamen, als suchten sie Schutz, oder aber …
    Sie riss Gesa die Decke aus den Händen, befahl der Kreißenden, das Becken anzuheben und schob das Wolltuch darunter, während sie ihr schon die durchnässten Röcke zurückschlug. Ruppig fuhr ihre Hand zwischen die Schenkel der Frau, deren Abwehr sie mit ihren dicken Oberarmen begegnete.
    »Hören Sie auf damit, Frau Textor, bitte sind Sie nicht so grob mit ihr«, flüsterte Gesa. Sie beugte sich zu der Frau, die verzweifelt wimmerte, stützte ihren Nacken, den Kopf, der sich unter einer weiteren Wehe vorwarf. »Lassen Sie sich doch aufrichten, in Gottes Namen, das Kind kommt.«
    »Das Kind kommt, wenn der Professor da ist«, knurrte die Textor. »Und wenn er es für richtig hält, reicht es noch, bis der Blödkopf die Studiosi aufgetrieben hat. Und Sie, Langwasser, zum Teufel, sorgen jetzt dafür, dass dieses Weib die Wehen verarbeitet, anstatt zu pressen. Und sorgen Sie dafür, dass sie Ruhe gibt, verdammt noch mal, damit ich die Wasser zurückhalten kann.«
    Wieder zwängte die Textor die Beine der Frau auseinander und schob sich einen ihrer Ärmel hoch.
    »Die Geburt aufhalten?«, sagte Gesa, während die Frau sich an ihr festklammerte. Das ist verrückt, das …«
    »Verrückt, ja? Ich will dir was sagen, Besserwisserin, ich habe den Professor schon selbst eine Geburt mit der Hand zurückhalten sehen … Hörst du jetzt auf zu pressen, Weib!«
    Die Frau schnappte nach Luft, als die Textor zugriff. Dann traf ihr Tritt die Haushebamme mit voller Wucht.

    Kilian hatte Pauli gleich weitergeschickt und eilte allein dem Haus Am Grün entgegen. Die Stadt erwachte. Die aufgehende Sonne gab hinter den Dächern ein glühendes Schauspiel, vermochte seine Stimmung jedoch nicht zu heben. Kilian schob zwei Finger der linken Hand zwischen die Knöpfe seines Gehrocks, während die rechte den Knauf des Stocks fester fasste. Die Absage der Gottschalkin lag ihm wie ein Stein im Abdomen. Der Professor wollte zu den Dingen eine Haltung einnehmen, eine, die zu ihm passte.
    Ihr Brief steckte noch immer auf dem Kaminsims hinter einem Kerzenleuchter, obwohl sein erster Impuls gewesen war, ihn zu vernichten, als könnte er damit das gesamte verunglückte Unterfangen ungeschehen machen. Doch das erschien ihm lächerlich empfindlich, wie das Verhalten eines enttäuschten Liebhabers. Er war verärgert, sehr sogar. Nicht enttäuscht. Heute Abend vielleicht – es sei denn, ihn hielten andere Geschäfte im Institut -, heute Abend, wenn er ein Feuer im Kamin anzünden ließ, dann würde er den Brief hineinwerfen, dessen Wortlaut ihm im Einzelnen kaum mehr im Gedächtnis war.
    Sie hatte sich höflich ausgedrückt, und ja, auch respektvoll. Sie hatte die Form gewahrt auf eine Weise, die ihn zwischen den Zeilen nach einem Hinweis suchen ließ. Fühlte sie sich ihm überlegen? Hatte er sich mit seinem Angebot nicht ohnehin zu einem Denkfehler verleiten lassen, oder zu einem strategischen Ansatz, der scheitern musste, weil er seinen eigentlichen Überzeugungen widersprach?
    Hombergs Rat und Empfehlung hatten sich aus der noch sehr verbreiteten Sichtweise gespeist, dass männliche Geburtshelfer am Kindbett einer anständigen Bürgerin nichts zu suchen hatten, es sei denn, es ging um Leben und Tod. Noch immer

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