Die Hebamme
sollte sie das Verhalten eines Mannes deuten? Sie wusste nicht das Geringste darüber, und kaum ein Ort war ungeeigneter, das zu ändern, als dieser.
Im ersten Stockwerk schienen die Frauen aufzustehen, sie hörte Schritte. Gesa zog das Wickeltuch stramm, erhob sich und stützte den Kopf des Kindes, das aussah, als wollte es sich lautstark empören.
Doch der Schrei kam von oben.
Anna Textor meinte, dass ihr der Schädel platzen müsste, während sie in der Schwangerenkammer dem Weib gegenüberstand, das sich wie eine Furie gebärdete. Bildete sich ein, man konnte kommen und gehen, wie es gerade passte. Die mit dem Gör und dem Fieber war kaum weg, da kam die Nächste und machte alle wild.
War nur zu hoffen, dass der Blödkopf sich beeilte, sonst würde sie ihm eine Abreibung verpassen. Es sollte ihr kein zweites Mal passieren, dass sie vor dem Professor wegen so einer schlecht dastand. Wegen so einer oder wegen … Hatte gedacht, sie könnte sich wegschleichen, die Person. Jetzt heulte sie und bettelte, ob sie denn kein Herz hätte, kein Erbarmen.
Maul halten! Es war ihre eigene Stimme, die ihr in den Ohren klang wie ein umstürzender Eimer. Inzwischen war Anna Textor der festen Überzeugung, dass jemand in diesem Haus es darauf anlegte, ihr eine Falle zu stellen.
Es hätte sie gleich misstrauisch machen müssen, als die braune Flasche in ihrer Kammer stand. Auf ihrer Truhe! Jeder hätte sie von der Tür aus sehen können, das allein hätte sie warnen müssen. Von innen gegen die Tür gelehnt, hatte sie die Flasche geöffnet und daran gerochen. Dann einen kleinen Schluck genommen. Der Feuerball war herangerollt und hatte ihr fast die Kehle verbrannt. Sie hatte husten müssen, aber alles andere war sofort besser gewesen, leichter. Allein, wie schnell sie sich hatte bewegen können, plötzlich.
Die Flasche versenkte sie erst einmal in der Truhe. Sie musste sich beherrschen. Erst am nächsten Tag schaute sie wieder nach. Dann versorgte sie sich mit den Dörrbirnen aus der Vorratskammer. Nach jedem der winzigen Schlucke, die sie zunächst über die Tage verteilte, legte sie sich das Trockenobst auf die Zunge. Was süß schmeckte, musste auch süß riechen. Und mit wem hatte sie schon viel zu reden?
Nun, sie hatte die Weiber zu fragen. Mit denen redete sie, wenn sie ankamen. Das tat immer sie. Wenn sie ihre Lügen erzählten, so wie diese Schlampe hier. Die Person war nicht die Einzige, die behauptete, zum ersten Mal schwanger zu sein. Anna Textor vermerkte dergleichen im Protokollbuch, und nicht selten schrieb der Professor was daneben, wenn er die Schwangere untersucht hatte. Dann stand da: leugnet. Es kam vor, dass er nach ein oder zwei Untersuchungen im Auditorium – in Gegenwart seiner Studenten – zum Namen einer Lügnerin hinzufügen konnte: gesteht.
Das Weib hier war ein verlogenes Stück, eine Hure bestimmt, so wie sie jetzt fluchte und ihr entschieden zu nahe kam. Doch sie würde nicht an ihr vorbeikommen. An der Haushebamme. Anna Textor hörte sich lachen. Sich? Musste wohl sein – sie sah niemanden lachen in dieser Kammer. Nur in ihrem Kopf waren fremde Geräusche, Sturm in den Ohren. Das hatte mit der zweiten Flasche angefangen.
Mehr als in früheren Zeiten, den besseren, als sie in der Stadt die Besorgungen machte, als ihre Aufgaben noch andere waren, als sie in der Apotheke die Bestellungen abholte nach der Liste des Professors, dessen Handschrift sie mühevoll zu entziffern gelernt hatte … mehr als in früheren Zeiten verdiente das Zeug es, Medizin genannt zu werden. Spätestens seit der zweiten Flasche. Schlimmer Fusel. Nicht zu vergleichen mit dem, was sie mit Schläue aus der Apotheke bezogen hatte.
Hinter sich spürte Anna Textor einen Luftzug. Sie spürte jetzt alles etwas genauer, und so dachte sie, dass sich jedes Einzelne ihrer Nackenhaare aufrichten musste, als die Langwasser an ihr vorbei in das Schwangerenzimmer ging. Sie streifte ihren Arm, auch das spürte Anna Textor, und sie sah die Wöchnerin mit ihrem Kind auf dem Flur stehen und glotzen.
Vor ihr standen die anderen, zwei Schwangere, die sich von ihren Schlafstellen erhoben hatten. Eine stützte sich am Fenstersims ab, eine dickleibige Silhouette, hinter der es draußen langsam hell wurde. Anna Textor kniff die Augen zusammen.
Sie starrte auf den Rücken der Langwasser, wo sich die Schürzenbänder kreuzten. Sie sah die ruhigen Bewegungen, mit der die Langwasser die dritte Frau im Zimmer davon abhielt, dieses zu
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