Die Hebamme
Unwillen – Beachtung. Malvine schien ihre Gedanken zu erraten.
»Natürlich würde ich Ihnen nie zu Musselin oder Atlas raten, das wäre tatsächlich unpassend. Ein fein gewebter Kattun dagegen … Allein, wenn Sie ein Kleid dieses Schnittes tragen, werden Sie sich frei fühlen, beweglicher. Das dürfte Ihnen doch entgegenkommen.«
Erst als das Ganze mit einem Geschenk endete, fiel Elgin auf, dass Malvine Homberg die ganze Zeit ihre Arme hinter dem Rücken gehalten hatte. Der Stoff, den sie ihr nun reichte, war blau wie der Nachmittagshimmel und glitt weich durch die Finger. Ihn abzulehnen kam nicht infrage.
»Ich wusste, dass es die Farbe Ihrer Augen trifft, und ich freue mich schon jetzt darauf, das Kleid an Ihnen zu sehen.«
Gerührt war sie dann doch, und während Bettina gerufen wurde und Anweisung erhielt, den Stoff zu verpacken, sah Elgin Therese Herbst an der Mauer des Gartens stehen, von wo aus sie offenbar hinunter auf die Stadt blickte. Ein Luftzug drängte das leichte Kleid an ihren Körper und ließ die Konturen deutlich erkennen. So, wie sie ihr Haar trug, aus dem Nacken frisiert und mit einem Band festgehalten, wirkte sie sehr verletzlich. Es war gut, ihr begegnet zu sein. Therese würde Lamberts Aufmerksamkeit in absehbarer Zeit vollkommen auf sich ziehen. Und konnte das Elgin nicht recht sein?
Im Stillen untersagte sie sich unergiebige Grübeleien, nahm aus Bettinas Händen den verschnürten Stoff entgegen und erwiderte ihr Lächeln. Bettina schloss die Tür hinter ihr und bedauerte, dass sich beim Abschied keine Gelegenheit ergeben hatte, der Gottschalkin zu erzählen, wie großzügig Richter Homberg sich gegen sie zeigte. Dass er seine Zustimmung gab zum Verlöbnis mit Götze, den sie liebte und der als Diener bei Homberg verdingt war. Selbst dem Wunsch der Frau Rat, sie beide im Haus zu behalten, bis sie sich die Heirat leisten konnten, hatte der Richter nachgegeben.
Doch die Gottschalkin hatte müde gewirkt und das Wort nicht mehr an sie gerichtet, deshalb hatte Bettina ihr nicht weiter mitteilen können, wie glücklich sie war. Allerdings hielt sie es nicht für ausgeschlossen, dass es ihr auch so aufgefallen war, denn sie meinte kaum jemanden zu kennen, der sich so gut mit den Menschen auskannte wie diese kluge Frau.
Fünf
JUNI 1799
Das Urteil gegen Lene Schindler war gefallen. Richter Homberg fasste es in einer nächtlichen Niederschrift ab und setzte Daniel Collmann davon in Kenntnis, obwohl es nicht seine erste Pflicht war. Der junge Anwalt, der in diesem Verfahren die Gelegenheit hatte, Erfahrungen zu sammeln, wie es ihm mit einem anderen Richter vielleicht nicht möglich gewesen wäre, bat darum, es der Inquisitin mitteilen zu dürfen. Obwohl dies nicht seine Aufgabe war.
Als Collmann das Haus des Richters verließ, um sich auf den Weg zum Weißen Turm zu machen, hatte die Mittagswärme den Straßengerüchen bereits wieder die Herrschaft über den sanfteren Duft der blühenden Natur verschafft. Collmann nahm dies nur kurz zur Kenntnis. Er war zu erregt, um Gerüche wahrzunehmen, oder Geräusche, die aus den unteren Gassen Marburgs zu ihm hinaufdrangen. Sie blieben ungehört neben der Frage, die im Kanon mit vielen möglichen Antworten durch seinen Kopf kreiste.
Was hatte den Ausschlag gegeben?
Bis heute fehlte das Corpus Delicti. Lene Schindler hatte nie ein Geständnis abgelegt.
Ob dies den Richter dazu bewogen hatte, ihn – Collmann – gleich zu Beginn der Untersuchung als Defensor zu bestellen, konnte er nur vermuten. Die peinliche Gerichtsordnung schrieb dergleichen nicht zwingend vor, sie hielt den Einfluss des Anwalts gering. Für gewöhnlich bekam Collmann erst nach Abschluss der Untersuchungen Einsicht in die Akten. Allein danach hatte er eine Verteidigungsschrift abzufassen. Kaum mehr. Ein Anwalt musste den Fall aus dem Papier auferstehen lassen, war weder Zeuge von Verhören, noch war es üblich, dass er die Beklagten selbst befragte. Ein Anwalt konnte immerhin in der Arrestzelle Gespräche unter vier Augen führen.
Möglicherweise hatte der Richter angenommen, dass der junge Collmann mit seinen sanften Fragen einen besseren Zugang zu der Inquisitin finden würde, was in der Tat der Fall war.
Homberg hatte nicht versäumt, ihm dafür seine Anerkennung auszusprechen. Dem Richter war aufgefallen, dass die Person weniger verwahrlost vor ihn trat, wenn er sie fortan in die Verhörstube bringen ließ. Im Gegensatz zu den ersten protokollierten Befragungen hatte sie
Weitere Kostenlose Bücher