Die Hebamme
über steigende Mehl- und Brotpreise nicht von der Frage abbringen, welchen Zweck ein Accouchierhaus in Marburg für die Gesellschaft erfüllen sollte. Ob sie ahnte, welche Unterstützung ihr Interesse ihm bei Homberg und damit im Stadtrat geben würde?, dachte Kilian. Und wenn sie es wusste, dann war sie eine ebenso geschickte wie charmante Diplomatin. Ihre Fragen an jenem Nachmittag gaben ihm Gelegenheit, seine Argumente schlüssig im Plauderton vorzutragen. Homberg schwieg, um in Gegenwart seiner Gattin keine tiefer gehende Debatte anzuregen, hatte aber dennoch nachdenklich zugehört.
Kilian setzte die Tasse ab, als er bemerkte, dass der Kaffee kalt geworden war, und stand auf, um sich ein wenig die Beine zu vertreten. Dabei stieg erneut Unmut in ihm auf. In der Nacht war die Hebamme Gottschalk zu einer Frau gerufen worden. Jetzt, am späten Nachmittag, war sie immer noch nicht zurück. Womöglich hatte es Komplikationen gegeben, die den Geburtsvorgang in die Länge zogen – was mochte sich vielleicht jetzt noch am Bett der Gebärenden abspielen? Die Hebamme war da, wo er hingehörte. Sie war bei einer Bürgerin dieser Stadt, während er hier untätig herumstehen musste. Es war nicht zu vermuten, dass sie ihn absichtlich dieser Situation aussetzte, und doch brachte es alles, was ihn seit Wochen maßlos frustrierte, auf den Punkt.
Kilian lockerte sein Halstuch ein wenig und trat an das Fenster. Tatsächlich kam ein leichter Luftzug von draußen, der ihn angenehm umfächelte. Er wollte sich jetzt nicht gestatten, schlechte Stimmung aufkommen zu lassen. Wenn er dieser Frau nun zum ersten Mal begegnen sollte, musste er vor allem gelassen wirken. Trotz der Äußerungen Hombergs und seiner Frau gelang es ihm nicht, sich eine Vorstellung von ihr zu machen. Dass Neid ihm dies womöglich erschwerte, wollte er sich nicht eingestehen. Er war hier, um ein Angebot zu machen, das in diesem Land noch keiner Hebamme unterbreitet worden war. Malvine immerhin hatte der Gedanke entzückt.
Er wandte sich vom Fenster ab und ging zu den einzigen Bildern hinüber, die in diesem Zimmer die Wände zierten. Es waren zwei Porträts, Kreidezeichnungen, die nebeneinander über der Kommode hingen. Die Frau war jung, sehr apart, mit einer auffallenden Haarpracht, die sie beim Modellsitzen offen getragen hatte.
»Ich sehe, dass Sie wenigstens mit meinen Eltern schon Bekanntschaft schließen konnten«, sagte eine tiefe Stimme hinter ihm. »Nun, unterhalten konnten Sie sich leider auch mit Ihnen nicht. Ich bedaure es, Herr Professor Kilian, dass Sie so lange warten mussten.«
Sie trug ein einfaches schwarzes Kleid. Im Gesicht waren die herben Züge des Vaters erkennbar, selbst wenn sie lächelte. Doch man musste sagen, dass ihr Körperbau nichts von dem einer Matrone hatte, was sonst ihrem Berufstand gern anhaftete. Sie war eine schlanke Person mit fast harmonischen Bewegungen.
»Bitte entschuldigen Sie mich noch einen kurzen Moment.« Sie öffnete eine Verbindungstür zum Nebenzimmer und verschwand darin, während sie weitersprach. »Ich denke, Sie haben das Recht auf ein erfrischtes Gegenüber.«
Sie verhielt sich, als seien sie bereits gut miteinander bekannt. Kilian entschloss sich zunächst, das vorteilhaft zu bewerten. Durch die angelehnte Tür konnte er einen mit Büchern und Papieren überhäuften Arbeitstisch sehen, ein Anblick, der sofort an ihm nagte. Er hörte, wie sie Wasser in ein Behältnis goss, um dann geräuschvoll ihr Gesicht zu waschen.
»Marthe wird gleich frisch aufgebrühten Kaffee bringen. Ich hab ihn dringend nötig«, ließ sie verlauten. »Oder hätten Sie gern etwas anderes?«
»Aber nein.« Er hörte das Klappen einer Schranktür und versuchte, die Titel auf den ihm zugewandten Buchrücken zu entziffern.
»Ich schließe mich Ihnen an und nehme gern noch einen Kaffee. Sie hatten wohl einen anstrengenden Tag?«
»Für die werdende Mutter war es anstrengender. Das Kind hatte sich im oberen Becken mit dem Gesicht zur Geburt gestellt und verblieb sehr zögerlich.«
»Also darf ich vermuten, dass es sich zudem in einer schiefen Stellung befand?«, fragte er. »Die Stirn möglicherweise …« Im Geiste entwarf er Positionen, die das Anlegen der Zange nötig machten.
»Ja.« Es gefiel ihr offenbar, ihm davon zu berichten. »Die Stirn des Kindes war der Verbindung von Hüft- und Kreuzbein zugewandt.«
»Eine nicht eben ungefährliche Lage, wenn man die Einpressung der Halsgefäße bedenkt, die es eilig zu beenden
Weitere Kostenlose Bücher