Die Hebamme
Steinzeug für das Leinöl, die kleine Schere mit den stumpfen Enden.
Nachdem Gesa dies lange genug zuverlässig verrichtet hatte, entwickelte sie mit dem Erfindungsreichtum einer Heranwachsenden die Idee zu einer besonderen Tasche. Sie entstand nach einigen fehlgeschlagenen Versuchen und unzähligen Nähstunden. Als sie fertig gestellt war, betrachtete Bele die Erfindung, öffnete die Bänder, die sie an den Seiten zusammenhielt, schlug sie auf, sah auf den geordneten Inhalt und sagte: »Das scheint mir eine gute Sache zu sein.« Dass sie die Sache fortan benutzte, ohne je wieder ein Wort darüber zu verlieren, war mehr als ein Lob.
Gesa schloss die abgegriffene Tasche, deren festes Tuch inzwischen weich geworden war, und legte sie zurück an ihren Platz zwischen Kissen und Wand.
In den Jahren an Beles Seite hatte sie lernen müssen, zu verstehen, was sie nicht sagte, ebenso wie das, was sie aussprach. Wenn sie schwieg, war jeder Versuch, diesen verunsichernden Zustand beenden zu wollen, sinnlos. Man musste Geduld haben und warten. Insofern war Tante Bele kein schwer zu ergründender Mensch. Als sie damit begann, ihr die ersten Handgriffe beizubringen, waren sie sich nah, wie sonst selten. Sie musste dicht neben ihr sein, wenn sie vor dem Bett einer Schwangeren saßen oder vor dem Gebärstuhl, den Gesa, seit sie mitging, zusammengeklappt auf dem Rücken zu den Kreißenden trug. Es gab Frauen, die es ablehnten, darauf zu sitzen. Bele überließ es ihnen, andere Haltungen einzunehmen, die ihnen behagten. Gesa lernte, Leintücher fest zu verdrehen und sie am Deckenbalken einer Kammer zu befestigen oder am Fußende eines Bettes, sodass es den Kräften einer Frau in den Treibwehen standhielt. Doch wo immer sie sich in der Nähe einer Gebärenden befanden – wenn Bele ihr etwas mitteilen wollte, ihre Hand führte, um die Lage des Kindes zu ertasten, wenn sie Gesa anwies, wie sie die Frau in der Geburtsarbeit unterstützen konnte, dann sprach sie leise, Wange an Wange mit ihr, dass nur sie es verstand.
Sie über Geburten zu befragen, wenn sie mit keiner beschäftigt waren, hatte Gesa bald aufgeben müssen. »Wenn es so weit ist, dann wirst du es erfahren. Du lernst es an dem, was du vorfindest.« Sie war mit Befürchtungen zurückgeblieben, und daran hatte sich nichts geändert.
Oben in der Dachkammer hörte sie, wie Doktor Heuser seine nächtliche Wanderung wieder aufnahm. Was ihn wohl so ruhelos machte? Manchmal glaubte sie, dass auch er sich mit Befürchtungen trug. Vielleicht, wenn sie wieder in ihrem Dorf war, vielleicht würde sie die Geräusche aus der Dachkammer vermissen, in den Nächten, die sie allein in dem kleinen Haus verbringen würde. Die Erinnerung an ihn würde sie zurücklassen, zusammen mit den verstörenden Erinnerungen an so vieles, was sich hier abgespielt hatte.
Gesa griff nach ihrem Schultertuch und verließ die Kammer auf Zehenspitzen. Von der Stiege, die zur Dachstube führte, fiel Licht.
Auch das Auditorium lag nicht vollkommen im Dunklen, ein zunehmender Mond beleuchtete es ein wenig, und die gläsernen Türen der Schränke schimmerten ihr matt entgegen. Während sie sich ihnen langsam näherte, schien der flackernde Lichtschein ihrer Kerze die bleichen Geschöpfe in den Gefäßen in Bewegungen zu versetzen, so als hätten sie etwas zu verkünden.
Lotte würde die Prüfung als Erste machen und sie dann hier allein zurücklassen. Doch nicht lange, nur wenige Wochen noch, dann würde auch sie aus diesem Haus gehen. Wie oft, seit sie nach Marburg gekommen war, hatte sie diesen Tag herbeigesehnt!
Sie hatte über Anatomie gehört. Noch im Frühjahr kannte sie kaum das Wort. Inzwischen hatte sie das Innere des Menschen auf Kupferstichen gesehen, die Knochengerüste von ungeborenen Kindern. Sie wusste nun von rachitischen und anderen verengten Becken. Die Prüfung machte ihr keine Angst, sie war sicher, sie zu bestehen. Und doch meinte sie, weniger zu wissen als jemals zuvor. Es ist so, als wüsste ich jetzt mehr darüber, was ich nicht kann, dachte Gesa.
Sie bemerkte nicht, dass Doktor Clemens Heuser draußen auf dem Flur von der Flügeltür zurücktrat und leise die Treppen hinabstieg. Sie ahnte nicht, dass er sich nach einem heftigen inneren Widerstreit dagegen entschlossen hatte, das Auditorium zu betreten und sich ihr zu nähern. Er sagte sich, dass es nicht an der Zeit war, sie wissen zu lassen, was er immer stärker für sie empfand.
Eine Bemerkung von Professor Kilian hatte ihm
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