Die Heidehexe - Historischer Roman
worden, und Isabella hatte sich gehütet, danach zu fragen. Sobald die Rede auf Bernhard kam, war Rubina regelmäßig ausgerastet und auf sie losgegangen. Sie schämt sich für ihn, hatte Isabella gedacht und der Mutter verziehen, wie sie ihr alles vergeben hatte, auch, dass sie selbst bereits wenige Tage nach ihrer Geburt zu Pflegeeltern abgeschoben worden war. Je mehr Hiebe sie dort einsteckte, desto mehr liebte sie ihre Mutter, die sie bei jedem Besuch herzlich empfing und ihr die Zärtlichkeiten gab, die sie besonders bei der Ziehmutter so sehr vermisste.
Mitunter war die Sehnsucht nach Rubina und Bernhard so übermächtig gewesen, dass sie des Nachts vor Heimweh nicht in den Schlaf gefunden hatte. Und nun würde sie ihr Mütterlein nie, nie wieder sehen. Sie schluchzte, als sie das Verlies des Bruders aufschloss. Kaum erblickte der Jüngling die Schwester, stimmte er ein wildes Geheul an und schlug mit dem Kopf gegen die Gitterstäbe, die sein Lager abschirmten.
„Ruhig, sei ruhig, Bernhard. Alles ist gut“, besänftigte Isabella den Wüterich. Unmöglich konnte sie ihm von Rubinas Tod berichten, wenn sie nicht riskieren wollte, dass er einen Tobsuchtsanfall bekäme. Also sagte sie bedächtig: „Mama ist weggegangen. Ich soll dich abholen, werde dir jetzt die Stricke abnehmen. Aber du musst mir versprechen, dass du ein guter Junge sein wirst und mich nicht haust.“
Bernhard nickte.
„Großes Ehrenwort?“, fragte die Schwester.
„Ja … großes … Ehrenwort“, stammelte er, derweil ihm der Speichel aus dem Mund lief, den er mit der Zunge aufschleckte.
„Schmeckt“, grunzte er und rieb sich den Bauch vor Behagen.
Isabella nahm ihm die Fesseln ab. Er schmiegte seinen Kopf an ihre Lenden und sie wiegte ihn, wie man ein Kind wiegt, summte ihm Schlummerlieder vor.
Zufrieden nuckelte Bernhard an seinem Daumen, als würde er aus der Flasche Saft trinken oder an den Brustwarzen der Mutter leibwarme Milch saugen. Gierig und unersättlich. Dabei schmatzte er genüsslich.
Während Isabella Pläne schmiedete, mit ihrem Bruder bei passender Gelegenheit das Weite zu suchen, ging es in Rubinas Kammer hoch her.
Kalt war es hier, düster und modrig. Doch das Blut aus der Wunde dampfte noch schäumend und heiß.
Wer war der Erste?
Der Erste war Harras. Der Schwarze, der Wilde. Wie ein Stier stand er da. Bullig, breitbeinig, mächtig. In den braunen Augen glomm finsterer Hass. Er spuckte aus vor der Toten. Seine Stimme grollte: „Ist das alles gewesen? Soll sie uns entkommen?“
Ein einziger Aufschrei aus sämtlichen Mündern: „Nein, nie und nimmer geht sie so von der Welt!“
„Hat mein Söhnchen erdrosselt“, klagte Helene Scholz, die Waschfrau.
„Mir die Mutter erwürgt“, flüsterte Bäuerin Mertens und weinte.
„Meinen Gatten vergiftet“, rief die Schlossgärtnerin dazwischen.
„Und meinem Weib mit dem Schierlingstrank einen qualvollen Tod beschert“, meldet sich Krämer Bertram. Alle grölten durcheinander, schimpften und fluchten.
„Was kann ihr noch geschehen?“, fragt Gregor Walz, der Albino, lauernd. „Schließlich ist sie schon hin.“
Erneut schlug Har ras mit der Wortkeule zu: „Hört. In der Bibel steht’s geschrieben. Zählt nur Auge um Auge. Für Rubina heißt die Sühne, zählt nur Blut gegen Blut.“
Da fasste ein Schauder die Menge. Sie stand wie angewurzelt. Um die Mauer aus Abscheu schwang ein unsichtbares Band, das sie noch am Verbrechen hinderte. Aber die Gew issen sträubten sich vergeblich gegen das Ungeheuerliche, jenes Tabu, das niemals gebrochen werden darf.
Bertrams Jüngster, der Wildfang, riss sich aus jener Reihe der Zauderer. Tief saß der Schmerz um seine Mutter, und tief schlürfte er das schäumende Blut aus Rubinas Kehle in sich hinein. Sein Vater folgte ihm auf dem Fuße.
Neue Schuld ward aus Sühne geboren, in der sternlosen, mondkalten Nacht. Und das Böse im Menschen, sonst im Innern verborgen, schüttelte seine Fesseln ab, brach sich donnernd die Bahn. Da erwachte das Verlangen. Lüstern packte ihn der Blutrausch. Wie ein Feuer, das Fieber. Wie ein Strudel, der Wahn. War der Bann erst gebrochen, gab es nie ein Zurück.
Die Meute stürzte sich auf die Leiche, saugte den Le benssaft aus dem geschundenen Körper. Es gab kein Halten für die Rächer. Als kein Blut mehr übrig war, schlugen die Kannibalen ihre Zähne ins Fleisch, zerrten aus jedem Muskel faserige Happen, verschlangen sie gleich hungrigen Löwen. Waschfrau Helene nahm einen
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