Die Heilerin - Roman
klimperte in meinen Armen. Der Korridor hatte eine leichte Steigung, doch die reichte schon, dass meine Oberschenkel schmerzten und ich langsamer wurde. Soek erging es nicht viel besser. Hohe Fenster säumten die Außenwand, und Geveg breitete sich vor meinen Augen aus, eine kleine Insel in einem großen See. Ich versuchte, nicht daran zu denken, dass ich beides in diesem Moment möglicherweise zum letzten Mal zu sehen bekam.
Noch eine Biegung. Mehr Fenster, dann ...
Nein!
Meine Füße, mein Herz, mein Atem, alles stockte auf einmal. Der Gang endete in einem kreisrunden Raum mit Fenstern in allen Richtungen. Wie befanden uns in einem der hohen Spitztürme. Schlitternd kam ich in der Mitte des Raumes zum Stehen.
Eine Sackgasse. Wir waren am Ende.
Vierzehntes Kapitel
W as machen wir jetzt?«, flüsterte Soek.
Stiefeltritte hallten von den marmormen Wänden wider, wurden lauter, als die Wachen näher kamen. Ich hob den Beutel mit dem Pynvium hoch und musterte die Fenster. Draußen auf dem Sims kehrten mir Statuen der Heiligen den Rücken zu, als missbilligten sie, was ich getan hatte. Das Pynvium konnte mir immer noch helfen. Auch wenn es sich nicht entladen sollte, war es schwer genug, um ein Fenster einzuschlagen und mir den Weg auf den Sims und hinunter auf das Dach freizumachen, und - halt mal, war das ein Riegel?
»Da rüber.« Ich schoss zu dem Fenster und entriegelte es. Es schwang widerstandslos nach außen.
Das Trampeln wurde lauter, donnerte über die letzten paar Stufen zu diesem Teil des Turms. Jede Sekunde mussten die ersten Wachen um die Ecke kommen und uns entdecken. Tali würde mir nie verzeihen, sollte ich hier mein Leben lassen.
Ich kletterte zum Fenster hinaus und auf den Sims, der die Kuppel umgab. Soek folgte mir und drückte das Fenster zu. Wind peitschte meine Wangen, brannte in meinen Augen und fegte mir die perlengeschmückten Zöpfe ins Gesicht
Nicht fallen und um der Liebe der Heiligen Saea willen, sieh nicht runter.
Ich drückte mich mit dem Rücken an das Glas und bewegte mich Zentimeter um Zentimeter voran, bis ich die Statue der Heiligen Saea erreicht hatte, die mit ausgestreckten Händen voller Vogelkot auf Geveg hinabblickte. Ich kauerte mich unter ihre Röcke, so voller Angst, dass ich kaum zu atmen wagte. Soek, furchtbar blass, klemmte sich neben mich. Immer wieder musterte er das abschüssige Dach und den Boden, der so weit unter uns lag.
Schatten tanzten über das Dach, folgten den Lichtstrahlen der Vormittagssonne, die hinter uns am Himmel stand. Hell, dunkel, hell, dunkel, immer abwechselnd, wie die Pfeiler, die mich vor den Männern verbargen, welche nun in den Raum eindrangen. Noch mehr Schatten beteiligten sich an dem Tanz, als die Wachen sich aus hellen in dunkle Bereiche bewegten.
Gedämpft drangen ihre ärgerlichen Stimmen durch das Glas, aber kein Fenster wurde geöffnet. Ich lächelte, stellte mir vor, wie sie dastanden, sich an den Köpfen kratzten und sich fragten, wo wir geblieben waren. Über eine andere Treppe nach unten entwischt? Aber wie? Umgekehrt sein können sie nicht. Vielleicht haben sie sich in Luft aufgelöst.
Ein Knarren zu meiner Linken verwandelte mein Grinsen in eine Grimasse. War das das Fenster? Noch mehr Schatten tanzten auf den Dachschindeln wie Hände, die nach mir greifen wollten. Dann verschwanden sie, und das Fenster fiel krachend zu.
Ich atmete auf.
Bis rechts von mir ein weiteres Fenster knarrte.
»Da sind sie!«
Ein Wachmann beugte sich heraus, doch sein Blick wanderte nervös zwischen dem Sims unter dem Fenster und mir hin und her. Schätze, er mochte Höhen genauso wenig wie Soek.
»Pack sie dir!«, ertönte es von drinnen. Soek ergriff meinen Arm. Ich tätschelte besänftigend seine Finger, wenn ich auch bezweifelte, dass ich ihn auf diese Weise wirklich beruhigen konnte.
»Ich klettere da nicht raus.«
»Geh! Das ist ein Befehl.«
Der Wachmann schnaubte verächtlich. »Ich wurde angeheuert, um Türen zu bewachen, nicht um über Dächer zu laufen.«
Ich grinste. Leistung hatte eben ihren Preis, und Arbeit wurde heutzutage nicht gerade gut bezahlt.
Ein anderer Wachmann steckte den Kopf aus dem Fenster, aber auch der sah aus, als fürchte er die Höhe. Ich griff in meinen Beutel und zog einen Pynviumklumpen hervor. Ob er Schmerz enthielt, konnte ich nicht sagen. Ich holte zum Wurf aus, sammelte all meinen Zorn und versuchte nachzuempfinden, was ich gefühlt und was ich getan hatte, als ich den Wachmann beworfen
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