Die heimliche Lust
erinnert sich an ihren alten, immer wiederkehrenden Alptraum: sie läuft mit ihrem Zimmerschlüssel in der Hand einen Hotelflur entlang, aber an wie vielen Türen sie es auch versucht, der Schlüssel paßt in keines der Schlösser.
Sie fühlt sich in ihre Jugend zurückgeworfen, überflutet von Erinnerungen an ein sehr ähnliches Erlebnis. Sie versuchte, ihre wahren sexuellen Gefühle mit ihren guten Vorsätzen in Einklang zu bringen. Damals wie jetzt lautete die Frage, ob sie sich auf Sex einlassen soll. Damals wie heute zögerte und zauderte sie und wog vorsichtig die Regeln gegeneinander ab, die die Welt in Gut und Böse einteilen, in Abstinenz und »bis zum Letzten gehen«.
Ebenso wie Paula werden auch andere Frauen von beharrlichen Jugenderinnerungen heimgesucht: Dana, achtundzwanzig Jahre alt und seit drei Jahren verheiratet, berichtete mir, daß ihre Verwirrung darüber, »wie weit man gehen und immer noch [seinem Mann] treu sein kann«, sie an ihre Jugendzeit erinnere, »wie weit sie gehen« und immer noch eine Jungfrau bleiben könne. Das quälte sie.
Dana hat drei Jahre nach ihrer Heirat mit einem anderen Mann oralen Sex gehabt, sie fühlt sich aber »immer noch treu«, weil »wir nie richtig miteinander geschlafen haben«. Sie wußte zwar, wie unaufrichtig ihre Definition von »immer noch treu« war, aber vor die Wahl gestellt, ihre Jungfräulichkeit zu verlieren und »unanständig« genannt zu werden oder eine sexuelle Gelegenheit auszuschlagen, um als »anständig« gelten zu können, entschied sie sich als Mädchen wie als erwachsene Frau für ein Ausweichmanöver: Wenn das »Unanständige« am Sex der Koitus war, dann war vielleicht alles diesseits des Koitus nicht unanständig. Das klang gut. Sie erinnert sich, wie raffiniert sie die Grenzen des Möglichen dehnte:
Man ist eine Jungfrau, bis man Geschlechtsverkehr hat, stimmt’s? Ich gehe davon aus, daß es bei einer Ehefrau genauso ist: Man gilt als treu, bis man mit jemand anderem Geschlechtsverkehr hat. Ein halbes Jahr lang haben Jeremy und ich also nicht gevögelt. Wir benutzten Vibratoren, wir versuchten es mit chinesischen Kugeln — ich saß auf einem Stuhl und masturbierte mit diesen zwei kleinen Silberkugeln. Wir haben es wirklich wild getrieben, aber in meiner Einbildung war ich immer noch eine gute Ehefrau, weil wir nie einen Koitus hatten. Wenn das die Regeln waren — verdammt noch mal, ich hielt mich daran.
Frances, sechzig Jahre alt und seit sechsunddreißig Jahren verheiratet, erinnert sich an ihren Versuch, ihren vor fünf Jahren gefaßten Entschluß zu einem Seitensprung mit dem Wunsch zu vereinbaren, treu zu bleiben — »man muß sich das vorstellen, nach all diesen Jahren !« — und die Grenzen nicht zu überschreiten. Ebenso wie Dana hatte auch sie den Weg gefunden, um die feine Grenze des gerade noch Erlaubten zu erweitern — sie würde einfach die Kopulation vermeiden.
Es kam mir zwar der Gedanke, Fred könnte es nicht goutieren, daß ich mit dem Finanzchef meiner Firma regelmäßig und genußvoll Oralverkehr hatte, aber irgendwie hatte ich bereits früher gelernt, heftiges Petting nicht zu ernst zu nehmen: Als ich jung war, merkte ich, daß man eine Jungfrau sein und trotzdem aktiv und passiv oralen Sex betreiben konnte; so konnte ich jetzt eine Ehefrau sein und dasselbe tun!
Auch Frauen in den Zwanzigern und Dreißigern, die alle vorehelichen Sex gehabt hatten, fanden sich an den Konflikt »anständiges/unanständiges Mädchen« erinnert, den sie damals durchgemacht hatten. Außerehelicher Sex, merkten sie, wird noch weit stärker mißbilligt als vorehelicher Sex. Die fünfunddreißigjährige Ingrid:
Mit sechzehn war ich zwar stolz darauf, daß ich nicht »leicht zu haben« war, aber ich empfand diese Jungfräulichkeit auch als lästig — schließlich war ich bereits älter als die anderen Mädchen, die bis zum Letzten gegangen waren. Und jetzt hatte ich wieder dieses komische Gefühl der Tugendhaftigkeit, aber gleichzeitig der Belastung durch meine eheliche Reinheit. Es kam mir allmählich vor wie Jungfräulichkeit in einem zu hohen Alter — ich fragte mich, wer braucht das eigentlich? Für wen tue ich das? Sicherlich nicht für mich! So wuchs das Bedürfnis, sie abzuschütteln.
Und die seit einem Jahr verheiratete zweiunddreißigjährige Julia: Ich hatte eine stark moralische Einstellung zur Untreue, war sehr überzeugt, daß sie unrecht sei. Gleichzeitig wurde mir auch das Herz schwer, als sei diese
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